Die Träger von der Via Dolorosa
Die Stiege, die zu den Kammern im ersten Stock führt, ist krumm und steil. Durch schmale Fensterspalten fällt Licht von der Via Dolorosa. Masen Canaan kennt die ausgetretenen Steinstufen im Schlaf. Sicheren Fußes eilt er mit Zentnerlasten auf dem Buckel hinauf wie hinunter. Der 41-jährige Palästinenser ist Moslem. Aber Kreuze schleppen ist sein tägliches Brot. Vor allem zur Osterzeit – der Hochsaison entlang des Leidenswegs Jesu. Scharenweise rücken christliche Pilger zu unzähligen Kreuzprozessionen in die Jerusalemer Altstadt an. Manche laden sich schwere Holzbalken auf und drücken sich dazu eine Dornenkrone in die Stirn, um die Schmerzen des Herrn auf seinem Weg nach Golgatha nachzufühlen. Andere verteilen das Gewicht auf viele Hände und suchen die mehr spirituelle Erfahrung. Canaan hat für jeden das richtige Kreuz. Mehr als fünfzig Holzkreuze hat er im Sortiment. Sie stapeln sich, soweit nicht gerade in Gebrauch, im engen, verstaubten Lager. Die leichten wiegen 15 Kilo, die schweren das Dreifache. Manche seien uralte Hölzer, die schon sein Großvater an Pilger verliehen habe, sagt Canaan und tippt auf sein bestes, mit Kerben überzogenes Stück, dessen Mitte eine eingelegte Ikone schmückt. Er ist stolz auf das Traditionsgeschäft, das seine Familie seit osmanischer Zeit unterhält. Die Türken, erzählt er, hätten den Canaans vor Hunderten Jahren den Kreuzverleih übertragen – nicht nur wegen ihrer starken Schultern, sondern weil die christlichen Konfessionen sich nicht über die Verteilung einigen konnten. So wurde die Kreuzfrage ähnlich gelöst wie das Problem mit dem Schlüssel zur Grabeskirche, die zu den höchsten Heiligtümern der Christenheit zählt. Dort kommt zwei moslemischen Patrizierfamilien eine „Schlüsselstellung“ zu, was seit den Zeiten von Salahed-Din den Streit unter christlichen Glaubensbrüdern über Hoheitsrechte am Hauptportal dämpft.
Neben dem Eingang zur Grabeskirche stellen auch die Pilger die Holzkreuze ab. Die letzten fünf der insgesamt 14 Kreuzwegstationen entlang des Schmerzensweges Christi befinden sich in der Basilika. Die Kreuze müssen draußen bleiben. Masen Canaan bringt sie wieder zur Ausgangsstation an der ehemaligen Antoniusfestung, wo einst Jesus vom römischen Statthalter Pontius Pilatus zum Tode verurteilt worden sein soll. Am Karfreitag, wenn es in der Altstadt von Pilgern aus aller Welt nur so wimmelt, ist die Plackerei besonders schweißtreibend, dann müssen alle kräftigen Männer der Canaans ran. Masen, sein Bruder und noch zwei Cousins tragen die Kreuze schnellstmöglich zurück, oft gleich mehrere auf dem Rücken. „Wir laufen da bestimmt hundertmal hin und her“, berichtet Masen. Er nimmt es sportlich. Außerdem kommt am Karfreitag ordentlich was in die Familienkasse. „Aber bitte“, das ist ihm wichtig, „es geht uns nicht ums Geld“. Wer ein Kreuz ausleiht, lässt eine Spende da. Auch das gehört zur Tradition. Nur das Foto, das von den Kreuz-Pilgern auf der malerisch verwinkelten Via Dolorosa gemacht wird, hat einen festen Preis. Keiner rackert sich beim Kreuztragen so fotogen ab wie Jakov, bekannt als „The Jesus Guy“. Mit seiner von einer Kordel zusammengehaltenen, nicht ganz blütenweißen Kutte, dem freundlichen Gesicht, dem welligen Haar und dem Vollbart sieht er nicht nur aus wie der Gottessohn aus einem Hollywood-Film, er wandelt auch auf dessen Spuren – und zwar barfuß, sommers wie winters. „Denkt bloß nicht, dass ich glaube, ich sei Jesus“, meint er milde lächelnd beim Warten auf die Freitagsprozession der Franziskaner an der zweiten Kreuzwegstation. „Ich lebe nur wie Jesus ohne jeden Besitz“, darauf vertrauend, dass der Herr ihn nähre wie die Vögel auf dem Felde. Sein Nachtlager schlägt Jakov auf dem nackten Boden am Ölberg auf oder auf einer Kirchbank.
Jakov, vor 53 Jahren als Carl James Joseph in Kanada geboren, ist um die halbe Welt gepilgert, bis er vor vier Jahren nach Jerusalem kam. Der „Jesus Guy“ ist der vielleicht netteste schräge Vogel auf der Via Dolorosa. Der einzige ist er nicht. Zu seinen Stammkunden, erzählt Masen Canaan, gehöre eine ältere Dame aus den USA, die alljährlich mit Freunden anreise, „um sich für die Kreuzprozession in Kostüme zu hüllen, als ob wir im ersten Jahrhundert leben“. Bisweilen geißelten sie sich sogar gegenseitig. „Wirklich, mich wundert nichts mehr“, sagt Canaan und nimmt einen letzten tiefen Zug von seiner Zigarette. Aber jetzt muss er los. Jeder hat sein Kreuz zu tragen.
eine schöne Tradition