Was ist eigentlich Beten?
Gen 18, 20–32; Kol 2, 12–14; Lk 11, 1–13
Auf diese Frage gibt Jesus in dem Abschnitt des Evangeliums nach Lukas, in dem ihn einer seiner Jünger auffordert, sie das Beten zu lehren, eine Antwort.
Zu dieser Antwort gehört der Satz:
„Bittet, dann wird euch gegeben“.
In diesem Satz liegen Gefahren, Gefahren für den Glauben. So mancher hat diesen Satz im Sinne der sogenannten materialen Implikation der klassischen Logik – „wenn“ eine Bedingungen erfüllt ist, „dann“ tritt eine Konsequenz ein – verstanden oder – weniger philosophisch ausgedrückt – das Beten mit einem Warenautomaten verwechselt: „wenn“ man oben eine Münzen hineinsteckt, „dann“ kommt unten das Gewünschte heraus. Mit diesem Missverständnis beginnt oft ein Weg, der vom Kinderglauben über Enttäuschung und Zweifel zum Glaubensverlust und zum Unglauben führt. Und so mancher macht die Erfahrung, dass ihm das nicht gegeben wird, was er sich erhofft und worum er gebetet hat. Starb nicht die krebskranke Mutter trotz allen Betens um ihre Gesundheit? Erhielt nicht der arbeitslose Sohn trotz allen Betens doch keine Stelle und die Tochter kein gutes Abitur, obwohl man darum gebetet hatte. Dann heißt es: „Beten hilft nicht“. Und wenn ein Massenmord, ein Terroranschlag oder eine Naturkatastrophe viele Menschenleben kostet, dann hört und liest man die Frage: „Warum lässt Gott das zu? Trotz so vieler Gebete?“ Und wenn Gott das alles zulässt, gibt es ihn dann überhaupt? Das ist – um wieder philosophisch zu reden – die Frage der Theodizee, oder in der Sprache des Taxifahrers, der zu einem Priesterkleidung tragenden Fahrgast sagt: „Wenn sich der da oben doch auch einmal melden würde“. Aber nicht der Satz „Bittet, dann wird euch gegeben“, ist gefährlich, sondern das falsche Verständnis dieses Satzes. Deshalb ist es gut, dass Jesus selbst diesen Satz erklärt. Und an diese Erklärung können wir uns halten.
Jesus lehrt die Jünger – und er lehrt uns – bitten.
Das Vaterunser ist die erste Antwort Jesu auf die Aufforderung des Jüngers: „Herr, lehre uns beten“ – die lukanische Fassung des Vaterunsers, die etwas abweicht von der uns als Gebet vertrauteren Fassung bei Matthäus (Mt 6, 9–13) und bei der das „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“ fehlt. Der Jünger will tatsächlich das Beten lernen. Das ist in der lateinischen Bibel, der Vulgata, deutlich: „Domine, doce nos orare“, so heißt es dort – wörtlich: „Herr, lehre uns beten“. Hier bekommt es seinen Sinn, dass das lateinische Wort „petere“ „bitten“ und nicht „beten“ heißt. Dafür gibt es im Lateinischen die Wörter „orare“ oder „adorare“. Jesus lehrt die Jünger nicht das Beten in deren Sinn, sondern das Bitten: „Petite, et dabitur vobis“, so schreibt die lateinische Bibel – wörtlich: „Bittet, so wird euch gegeben“. Hier wird ein ganz alltägliches Wort gebraucht, eben „petere“. Und das heißt: „bitten“ oder auch „fordern“, nicht „beten“.
Der griechische Text des Neuen Testaments stimmt mit dieser schlichten und alltäglichen Ausdrucksweise überein. „Beten“ und „bitten“, „orare“ und „petere“ – im Deutschen klingen „beten“ und „bitten“ sehr ähnlich, fast zum Verwechseln. Im Griechischen und im Lateinischen sind die entsprechenden Wörter völlig verschieden. Das hat etwas zu bedeuten. Jesus gibt dem Jünger nicht das, was dieser haben will: Er gibt ihm keine Unterrichtung im Beten. Er gibt ihm das, was ihm nötig ist: Er lehrt ihn das Bitten. All unser Beten ist Bitten. Das Vaterunser ist ein Bittgebet, nicht Anbetung, nicht Danksagung, nicht Lobpreis, sondern bittende Hinwendung zu Gott. Wir bitten, dass der Name des Vaters geheiligt werden möge; wir bitten, dass sein Reich kommen möge; wir bitten um das Brot, um den Nachlass unserer Sünden und darum, nicht in Versuchung zu kommen. Und in diesem Sinne ist auch unser Danken ein Bitten, nämlich ein Bitten um die gnädige Annahme unseres Dankes durch den, der unserer Dankbarkeit nicht bedarf.
Jesus lehrt bitten!
Er macht das nicht nur, indem er den Jüngern ein Mustergebet, das Vaterunser, gibt. Er gibt auch Erläuterungen mit dem Gleichnis vom mitternächtlich bittenden Freund. Da bekommt jemand mitten in der Nacht unvorhergesehen Besuch von einem Freund auf der Durchreise. Kein Wunder, dass er für den späten Ankömmling nichts zu essen hat. So klopft er am Hause eines anderen Freundes, eines Nachbarn, an und bittet diesen um drei Brote. Wird dieser ihn abweisen, weil er schon zu Bett gegangen ist? Die Antwort kann nur heißen: Nein. Wenn schon Menschen, trotz mancher Umstände, sich so verhalten und auf eine Bitte etwas geben, wie sollte dann nicht Gott den Bittenden ihre Bitte erfüllen? Etwas anderes ist aber noch wichtiger: Der Freund gibt dem, der ihn gebeten hat, „was er braucht“, „soviel er bedarf“ oder „wieviel ihm nötig ist“. Das kann mehr sein als das Erbetene oder Erhoffte; das kann aber auch weniger sein oder etwas ganz anderes, eben „das Nötige“. In der Bergpredigt sagt Jesus: „Euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet“ (Mt 6,8).
Damit findet nun auch das Wort: „Bittet, dann wird euch gegeben“ seine Erklärung. Wir sollen bitten, aber es wird uns nicht gesagt, um was wir bitten sollen. Vielleicht gibt es ja auch Dinge, um die wir Gott gar nicht bitten dürfen. Denken wir an den August 1914, als der Erste Weltkrieg begann. Überall in Europa, auf beiden Seiten, beteten katholische, evangelische, orthodoxe und anglikanische Bischöfe und Pfarrer für den Sieg der Waffen der eigenen Nation. Darf man das? Und darf ich, wenn ich mit meinem Nachbarn im Streit liege, Gott bitten, er möge diesem Nachbarn Schaden zufügen? Sicher auch nicht. Das wäre das, was in heidnischen Kulten Schadenszauber genannt wird.
Aber gibt es nicht auch noch andere „Grenzen des Betens“, bei denen die Sache nicht so eindeutig ist?
Sollen wir Gott um Erfolg im Beruf, um Karriere und um baldige Beförderung bitten, um ein gefülltes Bankkonto oder um Gesundheit?
Bei Geburtstagen älterer Leute hört man oft: „Gesundheit ist das allerwichtigste!“ Ist das wirklich so? Das Vaterunser kennt keine Bitte um Gesundheit, um Erfolg im Beruf, um Glück und Zufriedenheit. Das Vaterunser kennt die Bitte um das tägliche Brot, die Bitte um Vergebung der Sünden und um Bewahrung vor Versuchung und die Bitte um das Kommen des Reiches Gottes. Aber ist das tägliche Brot nicht mehr als ein gut gefülltes Bankkonto? Ist es nicht gerade das, was „uns nötig“ ist? Im Lichte dieser „Grenzen des Betens“ verliert das Wort: „Bittet, dann wird euch gegeben“ alle Gefährlichkeit. Es kann so auch neu zur Verheißung für die werden, denen – wie meinem Taxifahrer – der Himmel verschlossen und Gott jemand ist, der den Hörer nicht mehr abnimmt.
Dann gibt es in unserem Evangelientext noch ein Wort, über das sich nachzudenken lohnt. Von „Zudringlichkeit“ ist am Ende des Gleichnisses vom bittenden Freund die Rede. Wegen der Zudringlichkeit dessen, der ihn bittet, werde er ihm die drei Brote geben. Sollen wir Gott also zudringlich werden? Vielleicht ist das falsch übersetzt? Nein! Es ist korrekt übersetzt. In der griechischen Bibel steht dort „anaídeia“ – ein Wort, das im Neuen Testament nur hier vorkommt –, und das heißt „Zudringlichkeit“. Man kann es sogar mit „Unverschämtheit“ übersetzen. Gott weiß zwar, was wir brauchen, noch ehe wir ihn bitten. Aber er will gebeten werden. Wir sollen ihm zudringlich werden – wir, die wir nach dem Psalmisten nur Staub sind (Ps 103, 14), dem allmächtigen Gott – zudringlich wie Abraham in der Geschichte von Sodom und Gomórra im Buch Genesis – der ersten Lesung. Gott, der das „Klagegeschrei über Sodom und Gomórra“ und über die Sünde ihrer Bewohner gehört hat und die Städte deshalb zu vernichten droht, wird von Abraham sechsmal um Gnade für Sodom gebeten – „Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt“, vielleicht fünfundvierzig, vierzig, dreißig, zwanzig oder auch „nur zehn“ –; und sechsmal gesteht Gott Abraham zu: Dann „werde ich sie nicht vernichten“.
Abraham dringt auf Gott ein; er wird zudringlich.
Aber Gott lässt auf sich eindringen und räumt Abraham die für Sodom erbetene Vergebung ein. So dürfen auch wir in unserer menschlichen Schwachheit auf Gott eindringen, ihm zudringlich werden, und um Genesung von Krankheit oder um Segen im Beruf bitten. Beten ist Bitten im Vertrauen auf die „Kraft Gottes“, von der im Brief an die Kolosser – der zweiten Lesung – die Rede ist. Diese „Kraft Gottes“ kommt auch in der Kraft zur Vergebung – zum Durchstreichen des „Schuldscheins, der gegen uns sprach“ – zum Ausdruck, die Gott auf das zudringliche Bitten des Abraham versprechen lässt, Sodom „um der Zehn willen nicht vernichten“ zu wollen. Aber Gott fand in Sodom nicht einmal zehn Gerechte. Und so „ließ der Herr auf Sodom und Gomórra Schwefel und Feuer regnen … Er vernichtete von Grund auf jene Städte und die ganze Gegend“ (Gen 19,24f.), also wohl außer Sodom und Gomórra auch Adma, Zebojim und Zoar (Gen 14,8), die man gewiss alle am Südende des Toten Meeres suchen muss. Beten ist Bitten ohne zu vergessen, dass Gott besser als wir weiß, was wir brauchen. {Quelle: www.die-tagespost.de – VON HARM KLUETING}
-Können wir Gott um alles bitten?
“Darum sage ich euch: Alles worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil.“
Markus 11,24
Wir können mit allem, was uns bewegt, vor Gott treten. Kein Anliegen ist zu klein oder zu unwichtig. Entscheidend ist aber, dass wir im Geist der Liebe bitten und bereit sind, Gottes Willen anzunehmen.
Erfüllt Gott all unsere Bitten?
Gebet und Fürbitte sind kein Zauberritus, mit dem wir Gott so beeinflussen können, wie wir es uns wünschen. Jedes wirklich christliche Gebet erkennt die Souveränität und Freiheit Gottes an. Es verlangt Vertrauen und Geduld, es Gott zu überlassen wie, wann und auf welche Weise er unsere Gebete erhört.
Manchmal verändert sich beim Bittgebet nicht die äußere Situation, aber unser Inneres wird verändert durch das Gebet, es bekommt eine neue Blickrichtung, ein neues Sehen, das sich auch auf die Situation auswirken kann. Das Heil Gottes ist aber auch dann unter uns, wenn wir im Blick auf den leidenden Christus eigene und fremde Ohnmacht aushalten und paradoxerweise gerade darin Gottes Macht erleben. Wir sind in jeder Situation umfangen von Gottes Nähe – auch wenn wir sie vielleicht im Augenblick nicht zu spüren vermögen.
Dann verließ Jesus die Stadt und ging, wie er es gewohnt war, zum Ölberg; seine Jünger folgten ihm. Als er dort war, sagte er zu ihnen: Betet darum, dass ihr nicht in Versuchung geratet! Dann entfernte er sich von ihnen ungefähr einen Steinwurf weit, kniete nieder und betete: Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm (neue) Kraft. Und er betete in seiner Angst noch inständiger, und sein Schweiß war wie Blut, das auf die Erde tropfte.
Lukas 22,39 -44
Wie wirkt das Gebet?
Die Wirkung des Gebetes zeigt sich meist nicht in schnell vorzeigbaren Resultaten. Es hilft uns vielmehr, die Beziehung zu Gott, dem Ursprung und Ziel allen Lebens und der Quelle aller Liebe, nicht abbrechen lassen, sondern immer neu suchen. Aus dieser Beziehung heraus wird uns auch immer wieder die Gewissheit geschenkt, dass wir das bekommen werden, was wir wirklich nötig haben. Das bedeutet eine große Befreiung, weil es uns wegführt vom Leistungszwang, Konsumdenken und der Ideologie der „Machbarkeit“.
„Man soll von Gott nicht dies oder das erbitten, sondern Ihn selbst. Das ist’s, was in der geglückten Meditation geschieht, man erfährt, dass Gott … für uns da ist… Der wahre Sinn des Gebets ist die Herstellung des Stromkreises Mensch-Gott-Mensch. Und die Wirkung des echten Gebets ist die stärkere Liebe, die klarere Erkenntnis der Einheit aller Menschen und … Vertrauen ins Leben.“
Luise Rinser