Erstmals lässt Saudi-Arabien Sportlerinnen an Olympischen Spielen teilnehmen.
Läuferin Attar und Judoka Shahrkhani.
„Ich hoffe, ich kann einen großen Schritt für die Frauen machen“, sagt Attar.
Sarah Attar ist eine feinsinnige junge Frau, die gern liest. Das Kinderbuch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupery zum Beispiel oder Paolo Coelhos esoterischen Weltbestseller „Der Alchimist“. Auch den Aussteigerroman „Into the Wild“ von Jon Krakauer, der vor ein paar Jahren verfilmt wurde, schreibt die 19-Jährige auf die Liste ihrer Lieblingsbücher. Allen drei Geschichten ist gemein, dass darin der Held zu einer Reise aufbricht, ein großes Abenteuer zu erleben, das letztlich sein Leben maßgeblich verändert. Seit Ende der vergangenen Woche weiß Sarah Attar, dass auch sie bald auf eine solche Reise gehen darf, und es ist anzunehmen, dass es sich dabei um ein ähnlich einschneidendes Abenteuer handeln wird: Das Nationale Olympische Komitee Saudi-Arabiens hat die 800-Meter-Läuferin als eine von zwei Athletinnen für die am 27. Juli beginnenden Olympischen Spiele in London nominiert. Damit sind Attar und ihre Kollegin Wodjan Ali Seraj Abdulrahim Shahrkhani (Judo) die ersten Frauen in der Geschichte des ultrakonservativen, islamischen Königreichs, die an den Sommerspielen teilnehmen. Eine „riesengroße Ehre“ sei die Nominierung, sagte Attar in einem vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) veröffentlichten Video von ihrem Trainingsgelände in San Diego/USA, und ihre Augen leuchteten dabei vor Aufregung.
Katz-und-Maus-Spiel
Lange Zeit hatte es nicht danach ausgesehen, dass die zierliche, junge Sportlerin in diesem Sommer ihre eigene Heldengeschichte wird schreiben dürfen. Denn die Saudis verweigerten weiblichen Athleten noch bis wenige Wochen vor den Wettkämpfen die Teilnahme. Zu groß schien der Einfluss der streng-religiösen, wahabistischen Kräfte in der absolutistischen Monarchie, in der Frauen weder Autofahren noch öffentlich Sport treiben dürfen. Dass sich die Saudis nach einem monatelangen Katz-und-Maus-Spiel mit zahlreichen widersprüchlichen Aussagen und Lippenbekenntnissen nun also doch noch zu der symbolträchtigen Entsendung weiblicher Athleten durchringen konnten, ist letztlich dem immensen internationalen Druck geschuldet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatten sogar den Ausschluss Saudi-Arabien von den Spielen gefordert, während das IOC auf diplomatischen Wege versuchte, die Saudis mit Verweis auf das Gleichheitsgebot in der olympischen Charta zum Einlenken zu bewegen. Das schmälerte allerdings nicht die Euphorie, mit welcher die Entwicklung kommentiert wurde: Von einem „Meilenstein für die Gleichberechtigung“ wurde beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) gesprochen, von einem „Präzedenzfall, der den Frauen mehr Rechte gibt und es den Konservativen schwerer macht, ihren Standpunkt weiter durchzusetzen“ bei Human Rights Watch.
Ein Politikum
Die Teilnahme saudischer Frauen in London ist ein Politikum, und Sarah Attar ist auf dem besten Wege, eine globale Symbolfigur für Frauenrechte in ihrem Land zu werden. Nach Bekanntwerden ihrer Nominierung sagte sie selbstbewusst: „Ich hoffe, dass ich für die Frauen dort einen großen Schritt machen kann, damit sie mehr in den Sport involviert werden“. Und hier zeigt sich das, was an Attar so besonders ist: Sie sagt „dort“ („over there“) und meint damit das Land ihres Vaters, Saudi-Arabien. Denn Sarah Attar, die Tochter eines Saudis und einer Amerikanerin ist alles andere als eine typisch saudische Frau. Von der Realität der Frauen und Mädchen im Königreich, denen Sportunterricht in öffentlichen Schulen immer noch verwehrt wird, und die sich auf der Straße hinter einem schwarzen Ganzkörperschleier namens „Abaya“ verstecken müssen, ist Attar weit entfernt. Geboren und aufgewachsen ist die 1,62 Meter kleine Sportlerin in Escondido/Kalifornien, wenige Kilometer nördlich von San Diego. Anders als ihre Kollegin, die Judokämpferin Shahrkhani, hat Attar nie längere Zeit in Saudi-Arabien gelebt.
Mit langen Hosen und Kopftuch
Seit zwei Jahren studiert sie Kunst im Hauptfach an der Pepperdine-University in Malibu, einer Hochschule, die von der Glaubensgemeinschaft „Gemeinden Christi“ getragen wird. Sie mag Malerei und die Musik der schottischen Band Snow Patrol. An ihrer Uni ist Attar Mitglied des Leichtathletikteams, und obwohl ihre Paradedisziplinen dort eher die 1500 und 3000 Meter sind, wird sie in London über die 800 Meter starten. Dann wird sie gemäß den islamischen Bekleidungsvorschriften in langen Hosen und mit Kopftuch an der Startlinie stehen und aller Wahrscheinlichkeit nach als Letzte ins Ziel laufen. Denn ihre 800-Meter-Bestzeit ist mit 2:40 Minuten alles andere als konkurrenzfähig bei den Sommerspielen, und Attar reist nur dank einer Wildcard nach Großbritannien.
Die Symbolkraft ist wichtig
Doch viel wichtiger als ihr Abschneiden in London ist die Symbolkraft, die von ihrer Teilnahme ausgeht. Denn es ist bezeichnend, dass die Saudis eine Athletin aus den Hinterreihen des US-amerikanischen Hochschulsports rekrutieren müssen. Es zeigt, dass Saudi-Arabien über keinerlei Strukturen zur Förderung von Frauensport verfügt. Daher spricht der Nahostexperte von Human Rights Watch, Christoph Wilcke, auch lediglich von einem „positiven Signal“ und einem „Startschuss“ auf dem Weg zu einer aktiven Frauenförderung im Königreich. „Die Probleme der Frauen in Saudi-Arabien sind mit der Teilnahme saudischer Athletinnen bei Olympia nicht gelöst“, sagte Wilcke der „Welt“. Auch Sarah Attar weiß das, und sie scheint bereit dafür zu sein, die Aufgabe als Symbolfigur zu übernehmen. Zwar ließen ihre Eltern Fotos von ihr in einem ärmellosen Trikot auf der Homepage ihrer Uni entfernen, um das saudische NOK nicht zu provozieren, doch sie selbst richtete bereits das Wort an ihre unterdrückten Geschlechtsgenossinnen im Golfstaat: „Ich sage allen Frauen, die Sport treiben wollen: Tut es und lasst euch nicht abhalten!“ Bei Olympia wird sie diesen Standpunkt wohl noch einmal wiederholen – dann, wenn ihr großes Abenteuer längst begonnen hat. {Quelle: www.welt.de – Von Jörn Meyn}