Der Nahe Osten leidet unter dem „Fluch der bösen Tat“. Was diese war?
Das den Palästinensern seit bald hundert Jahren angetane Unrecht
Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend immer Böses muß gebären.“ – Man könnte meinen, Schiller habe die Bilder und Meldungen vor Augen gehabt, die in peinigender Stereotypie seit Jahrzehnten aus dem Nahen Osten zu uns kommen. Einem Wahrheitssucher wie Schiller wäre aber wohl auch die verzerrende Dialektik vieler Berichte aufgefallen: Muss denn nicht in einer wiederholten Abfolge von „Terror“ und „Vergeltung“ auch der Terror bereits Vergeltung sein und die Vergeltung Terror? Ja, ist es nicht gerade die dialektisch erzeugte Unwahrheit, die den Ausstieg aus dem Teufelskreis verhindert und indirekt auch uns zu Mittätern macht? Doch vor der Suche nach den Ursprüngen des Terrors scheint mir ein Blick auf die Ereignisse der letzten Monate angebracht: Als ich Anfang September das Gedicht „Höhere Finanzmathematik“ verfasste (Vatican-magazin 12/2009), wollte ich nicht bloß die Hilflosigkeit des „Kleinen Mannes“ veranschaulichen, sondern viel mehr noch vor der verlockenden, im Schlussvers angedeuteten „Rettung“ aus dem Finanzdebakel warnen: „Dann wird ein bisschen Krieg gemacht“. Das bezog sich auf die Drohungen gegen den Iran, denn der Ölpreis war damals noch in schwindelnder Höhe – und Spekulanten wissen ja, dass gut ein Drittel allen weltweit gehandelten Rohöls durch die Straße von Hormuz geht, die im Kriegsfall auf unbestimmte Zeit unpassierbar wäre.
Dieser Krieg scheint derzeit nicht auf dem Programm zu stehen, wie der niedrige Ölpreis nahe legt. Aber es wurde sehr wohl „ein bisschen Krieg gemacht“ – ein lokal begrenzter, schonend für Börsenkurse und Weltwirtschaft. Der Gaza-Krieg war von langer Hand vorbereitet, und die Vorbereitungen liefen unvermindert weiter, obwohl im Juni 2008 Ägypten eine auf sechs Monate befristete Waffenruhe vermitteln konnte, die von der Hamas vier Monate lang eingehalten wurde. Vereinzelte Verletzungen kamen nachweislich von anderen Gruppen. Aufrechterhalten wurde aber auch – vereinbarungswidrig – die Blockade des Gaza-Streifens. Die Waffenruhe brach erst im November zusammen, als bei einer israelischen „Razzia“ in Gaza mehrere Personen getötet wurden. Dass die Hamas-Führung eine wertlose Vereinbarung nicht verlängern wollte, mag unklug erscheinen. Doch wie wir spätestens seit dem Irak-Krieg 2003 wissen, lassen sich Rechtfertigungen für geplante Angriffe auch frei erfinden. Und im Fall Gaza kam es darauf an, möglichst knapp vor den israelischen Wahlen am 10. Februar, aber noch während des „Interregnums“ in den Vereinigten Staaten zur Tat zu schreiten. Für die Welt stand wie immer das israelische Recht auf Selbstverteidigung im Vordergrund. Für die Palästinenser stellt sich dieses Recht allerdings anders dar, nämlich als das Recht Israels, ungestört behalten zu dürfen, was man ihnen entschädigungslos geraubt hat und durch die Siedlungspolitik weiter raubt. Aber auf das zur Wahrheitsfindung unerlässliche audiatur et altera pars wird heute meist verzichtet.
Ob Israel seine Kriegsziele erreicht hat, bleibt fraglich. Denn ist die Hamas „entscheidend geschwächt“, wenn sie fünf oder zehn Prozent ihrer Kämpfer verloren hat? Hohe Militärs ließen verlauten, es sei ohnehin nur darum gegangen, Israels „Abschreckungskraft“ („deterrence“), die im Libanon-Feldzug 2006 gelitten hatte, wieder „glaubhaft“ zu machen. Die erzielte „killing ratio“, das Verhältnis der eigenen Toten zu denen der Einheimischen, lag jedenfalls im Gaza-Krieg mit eins zu hundert fast so hoch wie im Irak-Krieg, während man im Vietnam-Krieg „nur“ eins zu fünfzig und im Libanon-Feldzug gar nur eins zu zwanzig erreichen konnte. Doch egal, ob die „deterrence“, die „Terror-Fähigkeit“, jetzt glaubhafter ist, eine Lösung ist weiter entfernt denn je. Der Gaza-Krieg oder eigentlich dessen Ausdeutung durch die Meinungsmacher entscheidet, wer israelischer Premierminister wird: Verteidigungsminister Barak von der Arbeitspartei oder Außenministerin Livni von Kadima oder, falls die „Abschreckung“ nicht glaubhaft genug erscheint, Oppositionsführer Netanyahu vom Likud. Ein teurer Wahlkampf – aber kein Problem für westliche Demokraten, die zwar „Demokratie“ als Allheilmittel anpreisen, doch die Palästinenser bis heute mit einem strangulierenden Boykott bestrafen, weil sie Anfang 2006 mehrheitlich Hamas gewählt haben. Wir sind zwar angehalten, nicht über andere zu richten. Doch nach der Wahrheit zu suchen und diese zu verbreiten, das ist durch keine christlichen Verbote eingeschränkt, höchstens durch politische. Und zumindest ein Urteil können wir ohne Gewissensbisse fällen, nämlich wer den Nahost-Konflikt garantiert nicht ausgelöst hat: Nicht „die Araber“, nicht „der Islam“ und schon gar nicht „die Islamisten“, die es damals noch gar nicht gab.
Die Anfänge weisen nach Europa, wo im neunzehnten Jahrhundert der Zionismus entstand – eine weltliche Ideologie, die aber Kernelemente aus der Religion entlehnte. Der Zionismus richtete sich an „die Juden“, in der Praxis also an alle, deren Vorfahren irgendwann im Laufe der Geschichte zur mosaïschen Religion konvertierten, irgendwo zwischen Maghreb, Abessinien und Zentralasien. Das war ideologische Vorarbeit für verhängnisvolle „Rassen“-Gesetze und präjudizierte sowohl religiöse Juden, die dem künftigen Messias nicht vorgreifen wollen, als auch Personen, die nichts mehr mit dem Judentum zu tun hatten. Die erwählte Heimstätte war ebenfalls biblisch begründet – ohne Rücksicht darauf, dass diese von anderen bewohnt war und nie Platz für alle Juden dieser Welt bieten konnte. Die jüdische Einwanderung nach Palästina begann noch in osmanischer Zeit – damals in bescheidenem Ausmaß. Während des Ersten Weltkriegs traf die britische Regierung drei widersprüchliche Abmachungen: Dem Scherifen von Mekka wurde als Belohnung für einen Aufstand gegen die Osmanen ein arabisches Königreich versprochen („Lawrence von Arabien“), mit Frankreich wurde die Aufteilung der osmanischen Gebiete beschlossen („Sykes-Pikot-Abkommen“), und den Juden wurde eine nationale Heimstätte in Palästina zugesagt („Balfour-Deklaration“).
Aus dem arabischen Königreich wurde nichts, denn Syrien und Libanon gingen an Frankreich. Palästina wurde britisches Mandatsgebiet, welches zunächst auch das neue Emirat Transjordanien umfasste. Und zum Trost für den Scherifen wurde einer seiner Söhne im britisch kontrollierten neuen Staat Irak zum König gemacht. In Palästina kam es bereits in der Zwischenkriegszeit zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den immer zahlreicheren Einwanderern und den Einheimischen, aber auch zu Aufstandsversuchen gegen die Mandatsmacht. Dass die Araber mit den Feinden ihrer Feinde zu sympathisieren begannen, ist menschlich verständlich. Aber gerade das Reich, auf dem ihre Hoffnungen ruhten, sollte jene schrecklichen Taten setzen, die dann dem Weltgewissen als unantastbares Argument für die Staatsgründung Israels auf Kosten der Palästinenser dienten. Dass die Ideen des Zionismus auch bei Nicht-Juden Anklang fanden, ist teils im Antisemitismus begründet, teils in Fehlvorstellungen, die durch unkritische Übernahme „historischer“ Schilderungen im Alten Testament entstanden waren. Verfestigt wurden diese Fehlvorstellungen durch die Politik – die Krone des Heiligen Römischen Reiches etwa zeigt biblische Könige –, durch Literatur und Kunst. Heute werden sie durch pseudo-historische Filme weiter genährt, obwohl Archäologie, Sprach- und Literaturwissenschaften längst andere Erkenntnisse liefern.
Dazu kommen Fehlvorstellungen über Zeitraum und Ausmaß der Diaspora, die schon Jahrhunderte vor der Zerstörung Jerusalems durch Titus in vollem Gange war, sowie über die arabische Eroberung im siebenten Jahrhundert. Palästina war damals vorwiegend von Christen bewohnt, deren Vorfahren einst Juden gewesen waren. Dass diese „Ur-Palästinenser“ im Laufe der Jahrhunderte mehrheitlich zum Islam konvertierten, lag vor allem an dem für Nicht-Muslime nachteiligen islamischen Steuer- und Familienrecht. Selbst wenn heute der Kampf um Öl und Gas im Vordergrund zu stehen scheint, das den Palästinensern seit bald hundert Jahren angetane Unrecht ist die „böse Tat“, die auch in der näheren und weiteren Umgebung eine Vielzahl von Wucherungen und Metastasen entstehen ließ. Nicht zuletzt hat sie bewirkt, dass Konflikte mit rein weltlichen Ursachen zu religiösen Konflikten umgedeutet werden konnten – und damit tatsächlich zu solchen gemacht wurden, wie die vielerorts aufflammenden Christenverfolgungen belegen. Die von Europa mitgetragene Nahost-Politik ist zutiefst unchristlich, ja antichristlich, wie sich an ihren Folgen zeigt! Extremismus – ob weltlicher, ob religiöser – kann nur dort keimen, wo extremes Unrecht den Boden dafür aufbereitet hat. Und wer nicht mit „Terroristen“ reden will, sollte bedenken, dass so gut wie alle Kämpfer gegen Unterdrückung und Fremdherrschaft „Banditen“ oder „Terroristen“ waren, ehe sie Freiheitskämpfer, Minister, Präsidenten oder gar Nobelpreisträger wurden. Natürlich vorausgesetzt, dass sie auf der Siegerseite standen.