Kann man einen Obdachlosen auf dem Kirchengrundstück dulden? Vermutlich nicht, werden jetzt viele denken. Nächstenliebe und etwas Nachsicht contra Gesetz und Normen. Theorie und Praxis eben. Beobachtungen vor und nach einem Gottesdienst.
Als ich mit meinem Wagen auf den Parkplatz fuhr, entdeckte ich ihn sofort: ein durchaus gepflegt aussehender Mann mittleren Alters hatte hinter einem großen Busch auf unserem Kirchengrundstück Zuflucht gesucht. Von Taschen, Essensresten und Flaschen umgeben, hatte er es sich dort gemütlich gemacht.
Mit meinem Gesangbuch in der Hand ging ich auf den außergewöhnlichen Gast zu und begrüßte ihn. Freundlich grüßte er zurück und stellte sich als „Andreas“ vor. Wir kamen sehr schnell in ein nettes Gespräch und er erzählte mir, dass er bereits die letzte Nacht dort zugebracht hätte. Eher aus Sorge als aus Neugier fragte ich ihn, ob er Sorgen hätte, und wie es denn weitergehen sollte. Sehr bewegt erzählte er mir, dass er einen Sorgenberg vor sich her schiebe und zurzeit nicht nach Hause könne. Er hätte auch bereits versucht, sich vom Alkohol loszusagen, aber es sei ihm noch nicht gelungen.
Mir tat dieser Mensch sehr leid. Spontan bot ich ihm Hilfe in verschiedener Art an, aber er wollte sie nicht annehmen. So habe ich ihm einfach geraten, doch zumindest für einige Momente in die Kirche mitzukommen, sich etwas zu erfrischen und am Altar Gottes für ein paar Momente Ruhe zu finden.
Andreas lehnte ab, denn es war ihm peinlich, mit einer Alkoholfahne in den Gottesdienst zu kommen. Ich versicherte ihm, dass er sich darum nicht sorgen müsse, denn bei uns werde jeder Gast mit offenen Armen empfangen. Ich empfahl ihm, sich einem unserer Segensträger anzuvertrauen, um sich einfach mal allen Kummer vom Herzen zu reden. Aber Andreas zog es vor, draußen zu bleiben und sich bei dem einsetzenden Gewitter unter das Vordach der Kirche zurückzuziehen.
Während des Gottesdienstes gingen meine Gedanken immer wieder zu dem Mann und seinem Schicksal. Im Gottesdienst hörten wir viel von der Liebe Gottes und seines Sohnes und davon, dass wir Jesus, obwohl wir ihn nie von Angesicht gesehen haben, nachfolgen sollen. Es wurde der Heilige Geist erwähnt, der uns Lieben lehrt und uns – wie Sündenvergebung und die Teilnahme am Abendmahl – hilft, dem Wesen unseres Herrn Jesu ein Stück ähnlicher zu werden. Insbesondere hat mich der inbrünstig gemeinsam gesungene 4. Vers aus dem Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ bewegt, wo es heißt: „In Wort und Werk, in allem Wesen sei Jesus und sonst nichts zu lesen“.
Was aber dann nach dem Gottesdienst geschah, war für mich ein echter Schock. Die Brüder hatten sich darauf geeinigt, dass man vom Hausrecht Gebrauch machen und Andreas, den „Eindringling“, vom Kirchengrundstück entfernen wolle. Man befürchtete die Verschmutzung des Grundstücks und die Verärgerung der Nachbarn.
So marschierten nach diesem schönen Gottesdienst der Priester und die Brüder in den Garten und forderten unseren Gast zum Verlassen des Kircheneigentums auf. Da Andreas alkoholisiert war und er sich von den Brüdern ungerecht behandelt und gereizt fühlte, eskalierte die Situation und er ließ sich nicht so ohne Weiteres wegschicken. Er berief sich darauf, dass er durch mich eingeladen worden sei. In diesem Moment brach für mich eine Welt zusammen. Brüder und ein Großteil der Geschwister standen um Andreas herum und verscheuchten ihn aus dem Garten. Auf meine Einwände wurde gar nicht reagiert: ich hätte mich da herauszuhalten, man könne so eine Situation nicht dulden. Ich hörte noch, wie von „Penner“ und „macht uns hier in den Garten“ geredet wurde. Ich war entsetzt!
Konnte es sein, dass dies dieselben Brüder und Schwestern waren, die soeben noch von der Liebe Jesu geschwärmt hatten? Waren es dieselben Brüder, die Nächstenliebe und Vergebung gepredigt hatten? Waren saubere Kirchengrundstücke und „Norm“ so viel wichtiger als Nächstenliebe?
Ich bin noch jetzt enttäuscht, wütend und beschämt zugleich, wenn ich an diese Momente denke. Ich bin mir sicher, dass der Herr Jesus einen anderen Weg gefunden hätte, Andreas zu begegnen. Ich habe mir vorgenommen, künftig viel mehr für Menschen wie Andreas zu beten und an keinem Elend tatenlos vorbeizugehen. Beten für Menschen, die nirgends willkommen sind, und Seelen, an die keiner denkt, weil sie zu niemandem gehören. Ich verurteile die Amtsbrüder nicht, denn ich weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass Theorie und Praxis gerade in unserem Glaubensleben weit auseinander liegen können.
Von Bella Ella, der Jugendexpertin und Pädagogin
„…Ich verurteile die Amtsbrüder nicht“.
OK. Sünder darf man nicht verurteilen, dies steht eh nur Gott zu, jedoch die Sünden. Ob da immer ein genauer Grenzstrich zu ziehen ist, kann ich nicht sagen. Eine Sünde ist nun einmal nicht zu trennen von der Seele, die diese Sünde begangen hat. Da die Amtsbrüder jedoch gerade von Nächstenliebe, der Liebe Gottes und Jesu Liebe gesprochen haben, scheinen sie den Sinn ihrer eigenen Worte wohl nicht erkannt zu haben. Es scheint Bibeltext gewesen zu sein, der nicht in deren Seele eingedrungen ist. Wenn ich Verkündung der Liebe Gottes betreibe, so kann ich einen „Penner“ nicht ausschließen. Wenn ich das tue, mache ich mich unglaubwürdig. Die Predigt, die diese Amtsbrüder in Zukunft halten werden, wird die Autorin immer an ihrem, nämlich diesem Verhalten gegenüber diesem Menschen, bewusst oder unbewusst messen. Im Grunde haben sie ihr Vekündigungsrecht verwirkt, weil sie Vertrauen auf der ganzen Linie verloren haben.
Wer zwischen Verkündung und Tun in so kurzer Zeit einen unüberbrückbaren Graben schafft, der hat Jesus nicht im Geringsten verstanden, der hat sich auf die Seite der von Jesus angeprangerten „übertünchten Gräber“ begeben.
Nein, so nicht. Der Autorin muss ich da 1 zu 1 beipflichten. Wer kann diese Amtsbrüder in ihrer Verkündigung nach diesem Vorfall noch trauen, im wahrsten Sinne vertrauen? Bibeltexte als leere nicht mit Leben zu erfüllende Worthülsen in eine Gemeinde zu werfen, ist bereits Sünde, wenn der Verkünder nicht bereit ist, entsprechend dem Wort Jesu „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“ zu handeln.
Was hat dieses Verhalten dieser Amtsbrüder ausgelöst?
1. Der alkoholkranke Mensch wird sich von Christen abwenden. Er wird Jesus möglicherweise nicht mehr in den Mittelpunkt seines Denkens stellen können, selbst, wenn er wollte. Er wurde enttäuscht von den Vertretern Jesu hier auf Erden.
2. Auch die Autorin hat ein Stück des Vertrauens verloren, welches sie in diese Gemeindevorsteher gesetzt hatte. Sie kann ihnen nicht mehr vorbehaltlos trauen.
3. Sie haben der ganzen Gemeinde gezeigt, wie gelebtes Christentum eben nicht aussehen darf. Jedes Gemeindemitglied kann jetzt nach dem Beispiel dieser Amtsbrüder genauso ausgrenzend jedem „Penner“ gegenüber verfahren, ohne auch nur im Entferntesten ein schlechtes Gewissen zu bekommen.
Jede Sünde zieht Kreise. Jedes schlechte Wort, jede schlechte Tat zieht Wirkungen in den Seelen anderer nach sich. Aus diesem Grunde ist die Sünde zu meiden, nicht nur um seiner Selbst willen, sondern insbesondere auch um die Wirkung, die diese Sünde auf die Mitmenschen oder auch Mitgeschöpfe haben kann und hat. Diesen negativen Wirkungen werden wir uns im Jenseits ebenso wie den poistiven Wirkungen, die von uns ausgehen, stellen müssen.
Das ist keine Drohung, sondern eine Vermutung, die m. E. nicht von der Hand zu weisen ist. Die volle Erkenntnis der Wirkungen unserer Sünden, aber auch unserer uneigennützigen guten Worte und Taten im Jenseits auf andere Seelen wird uns wissen lassen, in welchen Status wir gehören. Da braucht es keines Urteilsspruchs Gottes.
Nicht nur im Paradies, im Jenseits, wirkt, sondern auch hier auf Erden bereits kann der „Baum der Erkenntnis“ seine Wirkungen entfalten.
Kein Christ darf diese Dinge auf die leichte Schulter nehmen.