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Durch Gebet und Wort für verfolgte Kopten

Der Halbmond über dem Balkan 27. April 2011

Filed under: Pater Zakaria & co. — Knecht Christi @ 00:18

Die Türkei entdeckt ihr osmanisches Erbe im Süden Europas neu

 

Die Türkei tritt auf dem Balkan in jüngster Zeit sehr selbstbewusst auf. Dahinter steht auch eine Rückbesinnung auf das osmanische Erbe. Die Reaktionen in der Region auf die türkischen Avancen sind entlang der je eigenen historischen Erfahrungen mit der Imperialmacht gemischt.

 

Von Istanbul aus gesehen erscheint der Balkan (türk. «bewaldeter Berg») anders, als wenn man ihn aus Brüssel betrachtet. Aus Nordwesten zeigt sich eine kleinstaatlich zersplitterte ethnische Mischzone, weder kulturell noch wirtschaftlich besonders attraktiv und eigentlich nur interessant, wenn Konflikte und «Einwanderungswellen» drohen. Als «Banlieue Europas» bezeichnete der britische Journalist Tim Judah den Balkan an einer Belgrader Konferenz der Böll-Stiftung und der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, und der Münchner Historiker Edgar Hösch sprach von einem «Verharrungsgebiet», weil dort die Modernisierung nicht recht vom Fleck kommt.

 

«Balkan» ist im Westen seit Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich ein Problembegriff. Ganz anders aus türkischer Sicht. Für Aussenminister Ahmet Davutoglu ist der Balkan ein «Zentralraum Afro-Eurasiens» und eine Austauschzone von grosser kultureller und wirtschaftlicher Bedeutung. Diese Sicht ist das Resultat einer Neuorientierung von Ankaras Aussenpolitik. Deren Maxime ist die «strategische Tiefe» der Beziehungen zu allen Nachbarn, vom Nahen Osten über den Kaukasus bis auf den Balkan. Geografische Lage und historisches Erbe definieren die strategischen Chancen dieser Politik.

 

Goldenes Zeitalter?  Wenn Davutoglus Blick auf der Landkarte ruht, dann tauchen daraus die alten Bilder der osmanischen Zivilisation auf. Ihr goldenes Zeitalter, schreibt er, hatten die Bewohner des Balkans im Osmanischen Reich. Damals sei es möglich gewesen, dass aus dem serbischen Bauernbuben Bajo Nenadic der Grosswesir Mehmed Pasa Sokolovic wurde. Und aus unbedeutenden Flecken wie Belgrad oder Sarajevo entwickelten sich Städte mit Hunderten von Kirchen und Moscheen. Erst nach dem Niedergang dieser Zivilisation hätten jene ethnischen Konflikte und Säuberungen eingesetzt, die scheinbar typisch für den Balkan seien. Aber man müsse die Region in ihrem Zusammenhang erfassen, um ihren Geist wiederzuentdecken. Die Grundlage dafür seien ein neuer politischer Dialog und der rege Tausch von wirtschaftlichen und kulturellen Gütern. Davutoglu und seine Mitstreiter werden gelegentlich als «Neo-Osmanen» bezeichnet. Es ist eine islamisch geprägte Politikergeneration, welche die nationaltürkische kemalistische Elite abgelöst hat. Anders als die Kemalisten steht sie dem Gedanken eines osmanischen Reichs positiv gegenüber und hat ein gelasseneres Verhältnis zu multiethnischen Gesellschaften.

 

Vermittlungsversuche: Was bedeutet das für ihre Balkanpolitik? Auf politischer Ebene hat sich Ankara mit Erfolg für die Verbesserung der Beziehungen zwischen Sarajevo und Belgrad eingesetzt. Hingegen scheiterten die Bemühungen, auch innerhalb Bosniens zwischen den Bosnjaken und den Serben zu vermitteln. Ob die Befriedungsversuche im serbischen Sandzak erfolgreicher sind, wo die Türken mässigend auf innermuslimische Machtkämpfe einwirken, bleibt abzuwarten. Offensichtlich dagegen ist schon jetzt die wachsende wirtschaftliche Rolle der Türkei: Sie baut Strassen in Serbien, Flughäfen in Pristina und Skopje und schliesst grosszügige Handelsverträge ab, welche die Balkanländer privilegieren.

 

Überraschender ist vielleicht der türkische Einsatz von «soft power»: In vielen Ländern finanziert Ankara die Rekonstruktion osmanischer Baudenkmäler. Nicht nur die trutzigen Türken-Festungen, auch alte Märkte und Brunnen werden sachkundig renoviert. In Albanien, Mazedonien und Kosovo geniessen private türkische Schulen und Universitäten einen ausgezeichneten Ruf, und die Studenten absolvieren Gastsemester in Istanbul und Ankara. Die türkischen Strände um Antalya gehören zu den beliebtesten Feriendestinationen der Touristen aus dem Balkan. Und türkische Fernsehserien konkurrieren erfolgreich mit den spanischen Telenovelas im Vorabendprogramm. «Nicht so exaltiert wie die Spanier, eher wie wir», sagt eine Belgrader Bekannte.

 

Mit einem Wort: Der türkische Halbmond über dem Balkan ist unübersehbar. Aber wenn man genauer hinschaut, sind es bis jetzt vor allem die Balkan-Muslime, die von den Neo-Osmanen angesprochen werden – und sich ansprechen lassen. – Birgt der historische Fundus überhaupt Orientierungsangebote für die Zukunft? Was die christlichen Balkanvölker als «Türkenjoch» bezeichnen, die 500-jährige osmanische Herrschaft, war keine die Gesellschaft umpflügende Tyrannei. Es handelte sich vielmehr um eine Überschichtung durch die Istanbuler Theokratie, die mit der «Millet»-Organisation den Untertanen ihren Glauben beliess und bis zu einem gewissen Grad auch die Selbstverwaltung. Die Osmanen, so der Grazer Historiker Karl Kaser, errichteten ein «tributäres System», das primär am Steueraufkommen der Untertanen interessiert war, um militärisch zu expandieren. Solange diese Rechnung aufging, verhielt sich die «Hohe Pforte» vergleichsweise tolerant. Aber Nichtmuslime waren in ihren Lebenschancen benachteiligt, der soziale Aufstieg nur durch den Übertritt zum Islam möglich.

 

Dieser erfolgte nicht nur freiwillig: Der spätere Grosswesir Sokolovic, von dessen Ruhm der türkische Aussenminister berichtet, war als Opfer der «Knabenlese» nach Istanbul verschleppt worden, wo Getaufte zu Muslimen und später zu Kriegern oder Verwaltern gemacht wurden. Im 17. und 18. Jahrhundert traten Zehntausende Bewohner vor allem im Gebiet des heutigen Albanien und Bosniens zum Islam über. Im Fazit bezeichnet Kaser die osmanische Herrschaft als «kulturelle Katastrophe», weil sie den Balkan jahrhundertelang von fortschrittlichen Entwicklungen des übrigen Europa isolierte. Weder Renaissance noch Reformation oder Aufklärung hinterliessen wichtige Spuren, der Aufwuchs einer einheimischen Intelligenz war nicht möglich.

 

Die Christen rächten sich nach ihrer Befreiung im Zeichen der neuen Nationalstaaten blutig an ihren muslimischen Nachbarn. Zwischen 1820 und 1920 wurden Hunderttausende von ihnen getötet und vertrieben. Viele fanden in der Türkei eine neue Heimat. Die «erwachenden Nationen» gründeten ihr Selbstbewusstsein auf heroisch stilisierten Figuren wie dem Fürsten Skanderbeg bei den Albanern oder Lazar bei den Serben, die gegen das «Türkenjoch» gekämpft hatten. Dieses anti-osmanische Element der nationalen Identitäten ist heute ein wesentliches kulturelles Hindernis für die türkische «soft power». Die Befreiung von Istanbuls Herrschaft schuf erst die Möglichkeit für die Modernisierung der Balkanländer. Gleichzeitig übernahmen sie in Anlehnung an die deutsche Romantik die Ethnie als zentrale Differenzkategorie. Damit hatte der Balkan eine folgenreiche Wahl aus dem ideologischen Angebot der europäischen Moderne gezogen.

 

Was indessen als dauerhaftes Erbe der «Türkenzeit» blieb, und zwar bis auf den heutigen Tag, ist die Staatsferne der zu Bürgern avancierten Untertanen und die grosse Rolle der orthodoxen Kirchen, welche die Abgrenzungen zwischen den Ethnien verstärken. Die Befreiung brachte auch eine neue Abhängigkeit: Der Balkan war zur militärisch-politischen Spielwiese der europäischen «Mächte» geworden. Auch dies gilt im Wesentlichen bis heute. Die engen Verbindungen zwischen der Türkei und dem Balkan haben nicht erst mit dem Aufstieg der Neo-Osmanen begonnen. Eine einschneidende Rolle spielte der Krieg in Bosnien 1992 bis 1995. Ankara trat als Schutzmacht der Bosnjaken auf, die anders als die bosnischen Serben und Kroaten kein Mutterland im Rücken hatten.

 

Dieser Krieg stärkte auch die politische Bedeutung des Islams auf dem Balkan. Politische Freundschaften und Feindschaften wurden zunehmend religiös aufgeladen. Abgemildert zwar, aber diesem Grundmuster entsprechend, sind heute die Reaktionen auf das neo-osmanische Werben. Enthusiasmus bei den Bosnjaken, Misstrauen bei bosnischen Kroaten und Serben. Zagreb und Belgrad, die Mutterländer, verhalten sich pragmatisch. Hier rechnet man sich vor allem wirtschaftliche Vorteile der regionalen Kooperation aus.

 

Misstrauische EU:  Aber nicht nur: Es ist interessant zu sehen, wie bei Besuchen die balkanischen Gastgeber die Türken eifrig auf die vielen kulturellen und kulinarischen Gemeinsamkeiten hinweisen. Die Türken nicken dann lächelnd. Von osmanischer Überheblichkeit ist keine Spur zu entdecken. Imperialer Stolz wird klug kaschiert. Diese Haltung unterscheidet die Türken in den Augen der kleinen Balkanvölker positiv von vielen «Europäern». Deren Reden über «europäische Standards» und das gelegentlich hemdsärmlige Auftreten ihrer Troubleshooter gehen vielen einheimischen Politikern auf die Nerven. Man hört nicht selten, dass die Türken manches «einfach besser kapierten». In EU-Kreisen reagiert man auf die türkischen Avancen im Balkan mit Skepsis. Zwar mag man diese Region nicht sehr. Doch wenn die Türken kommen, sieht man das Balkan-Schmuddelkind doch lieber im Schoss der europäischen Familie. {Quelle: NZZ.online – www.nzz.ch – Andreas Ernst}

 

One Response to “Der Halbmond über dem Balkan”

  1. Freiheitsfreund Says:

    Der Artikel scheint mir die osmanische Besatzung des Balkans zu einem „toleranten“, bloss an milden Tributforderungen interessierten System zu verharmlosen.

    Die Hinweise der Unterworfenen auf die „kulturellen und kulinarischen Gemeinsamkeiten“ mit den Türken, zu denen diese dann „lächelnd nicken“, können auch nicht als Beleg für die Abwesenheit osmanischer Überheblichkeit gesehen werden, wie der Autor das meint. Welcher Eroberer würde nicht lächelnd nicken, wenn man ihm Honig um den Bart schmiert?

    Ich werde die Behauptung einer angeblich „milden, toleranten osmanischen Besatzung des Balkans“ noch einmal anhand von anderen Quellen nachprüfen, z.B. Bat Ye’Or (obwohl diese den Schwerpunkt auf den Nahen und Mittleren Osten legt, diskutiert sie, wenn ich mich recht erinnere, auch kurz den Balkan).


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