Durch den Bundesstaat Plateau läuft die Frontlinie der blutigen Konflikte zwischen Muslimen und Christen in Nigeria. Religiöse und ethnische Gegensätze sind die Brandbeschleuniger im Machtkampf der Eliten. Deshalb werden auch die anstehenden Wahlen dem Land den inneren Frieden nicht bringen.
Der Krater ist immer noch deutlich zu sehen: ein kegelförmiges Loch im Asphalt, mit einem perfekt runden Rand. Was die Bombe sonst noch angerichtet hat, lässt sich an den faustgroßen Löchern ablesen, die die Schrapnelle in die Metalltüren der umliegenden Marktstände gerissen haben. Es sind Hunderte. Emmanuel Chung erinnert sich mit Schaudern an das Attentat an Heiligabend im vergangenen Jahr. „Wir waren alle in der Kirche, als plötzlich die Wände wackelten und kurz darauf die Schreie auf der Straße einsetzten“, erzählt er. „Dann folgte die nächste Explosion, dann noch eine. Ich war sicher, dass meine letzte Stunde geschlagen hat.“
Nassarawa heißt der Ortsteil der zentralnigerianischen Stadt Jos, in dem an Weihnachten 2010 mit der nahezu zeitgleichen Zündung von vier Sprengsätzen ein neues trauriges Kapitel des seit zehn Jahren schwelenden Konfliktes zwischen Christen und Muslimen eingeleitet wurde. Weil der Anschlag dem christlichen Teil von Nassarawa gegolten hatte, waren die mutmaßlichen Täter schnell ausgemacht. Wie viele Menschen bei dem Attentat und den folgenden Racheaktionen christlicher Jugendlicher gegen die muslimische Gemeinschaft der Stadt ums Leben kamen, ist bis heute nicht bekannt. Das nigerianische Rote Kreuz sprach damals von mehreren hundert Toten.
Jos ist so etwas wie die Frontlinie: Der Bundesstaat Plateau und seine Hauptstadt Jos sind so etwas wie die Frontlinie in den blutigen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen in Nigeria geworden. Seit 2001 wird die Region regelmäßig von brutalen Massakern erschüttert, bei denen bislang zwischen sieben- und zehntausend Menschen ums Leben kamen. Nur vordergründig sind religiöse Gegensätze die Ursache dieser Konflikte. In Wahrheit geht es um gleichberechtigte demokratische Teilhabe, um Zugang zu staatlichen Ressourcen, um ethnische Rivalitäten, die tief in der Geschichte des Landes wurzeln, um korrupte Politiker und nicht zuletzt um das große Ganze, nämlich ob Nigeria ein von christlichen oder von islamischen Werten geprägtes Land sein soll.
Doch die Wahrheit interessiert in Jos kaum noch einen. „Auge um Auge, Zahn um Zahn, darum geht es hier“, sagt Emmanuel Chung. Emmanuel ist Christ, gehört zur Ethnie der Berom und leitet in Nassarawa ein „Friedenskomitee“, das einen Ausgleich zwischen den Lagern vermitteln soll. Seine Organisation sei „interkonfessionell“, berichtet er stolz, doch die Muslime seien leider gerade nicht sonderlich disponiert für eine Mitarbeit. Dann nimmt Emmanuel regelrecht Witterung auf, bevor er den Fremden die Straße hinunter führt, tiefer in den Ortsteil Gwong hinein, der an Nassarawa grenzt. „Das ist muslimisches Terrain“, sagt er und deutet auf eine ausgebrannte Hausruine, die die „Grenze“ markiert. „Hier kann es für uns gefährlich werden“. So wie es inzwischen für jeden Muslim in Jos in einem christlichen Viertel gefährlich werden kann.
Gwong ist eine Geisterstadt. Straßenzug um Straßenzug nichts als ausgebrannte Häuser. Mal waren es christliche Familien, denen ein Mob das Dach über dem Kopf anzündete, dann wieder waren Muslime die Opfer. „Das hier war Frontgebiet bei den Zusammenstößen von 2008“, sagt Emmanuel während er nach allen Seiten sichert. Er ist zwar bekannt in Gwong, weshalb er sich ab und zu noch hineintraut in den muslimischen Teil seiner Ortschaft. Doch kaum einer seiner ehemaligen Nachbarn erwidert seine freundlichen Handzeichen. Dafür stehen an nahezu jeder Ecke Soldaten mit Stahlhelmen und schusssicheren Westen. Es sind Sondereinheiten aus den südlichen Landesteilen Nigerias. Den eigenen Regimentern war nämlich nicht mehr zu trauen, weil die sich je nach eigener Konfession auf die eine oder andere Seite schlugen.
Nigeria steht im April ein Wahlmarathon bevor: Der Grund für die Auseinandersetzungen von 2008 ist symptomatisch für das Misstrauen, mit dem sich Muslime und Christen in Jos begegnen. Anlass war ein Streit über den Ausgang der Wahl um das Bürgermeisteramt von Jos North, einem der größten Wahlkreise des Bundesstaates. Offiziell war der Kandidat der Regierungspartei, der ein Berom und folglich ein Christ ist, zum Sieger erklärt worden. Doch die Gemeinschaft der muslimischen Hausa sah das anders und ging zum Angriff über. Das Resultat waren wieder mehrere hundert Tote. „Wir Christen stellen die Mehrheit, aber die Muslime wollen die politische Macht“, sagt Emmanuel. „Das wird ihnen nicht gelingen, und wenn wir alle dabei draufgehen“.
Nigeria steht im April ein Wahlmarathon bevor. Am Montag, den 4. April, wählt das Land ein neues Parlament – wegen Problemen mit den Wahlunterlagen wurde die Wahl um zwei Tage verschoben. Am 9. April stehen Präsidentschaftswahlen an, bei denen Amtsinhaber Goodluck Jonathan, ein Christ aus dem Süden Nigerias, mutmaßlich bestätigt werden wird. Am 16. April schließlich werden neue Gouverneure für die Bundesstaaten gewählt. In der Provinz Plateau besteht kaum ein Zweifel daran, dass der gegenwärtige Gouverneur Jonah David Jang wiedergewählt wird. Aus Sicht der Berom ist der Mann der beste Gouverneur, den Plateau je hatte, weil er ernst macht mit wirtschaftlicher Entwicklung, vernünftiger Stadtplanung und transparenter Haushaltsführung. Aus Sicht der Muslime hingegen ist der Christ Jang ein Kreuzritter.
Verschwörungstheorien machen in beiden Lagern die Runde: „Wir dürfen wählen, aber wir dürfen nicht gewählt werden“, gibt Ibrahim Massala als Grund für den Gegensatz zwischen Christen und Muslimen an. Massala, den Präsidenten der Hausa-Organisation Jasawa, trifft man zu nahezu jeder Tageszeit in der Großen Moschee der Stadt, wo er über den Islam referiert. Er ist einer der Gründer der sunnitischen Sekte „Izala“ und damit mutmaßlich der einflussreichste Prediger in Jos.
Für ihn gibt es in diesem Konflikt nur Gut und Böse, und deshalb behauptet er, die Bombenanschläge an Weihnachten seien von Christen ausgeführt worden, um die toten Christen den Muslimen in die Schuhe schieben zu können. Dafür gibt es zwar nicht den geringsten Anhaltspunkt, aber solche Verschwörungstheorien machen in Plateau in beiden Lagern die Runde – und vergiften die Stimmung jeden Tag ein bisschen mehr.
Unweit der Moschee liegt in einer müllgepflasterten Sackgasse das Haus von Sheik Balarabe Dawud, dem religiösen Oberhaupt der Muslime von Jos. Auch er lässt kein gutes Haar an der Landesregierung unter Gouverneur Jang. „Die Regierung redet nicht einmal mit uns. Wir fühlen uns wie Aussätzige“, sagt er. Natürlich wollen die Hausa politische Beteiligung, sagt Dawud, „schließlich haben wir Jos aufgebaut“. Die aber werde ihnen unter dem Vorwand verwehrt, keine „Ureinwohner“ („indigenious“) von Plateau zu sein, sondern „Siedler“ („settler“). Der in Nigeria verfassungsrechtlich verankerte Unterschied ist von entscheidender Bedeutung. Denn ausschließlich die „alten“ Bevölkerungen eines Bundesstaates haben Anrecht auf ein so genanntes „indigenious certificate“, das ihnen den Weg an die Universitäten und in die Verwaltung des Bundesstaates ebnet. Und nur dort, in der Regierung, ist in dem von Korruption zerfressenen Nigeria richtig Geld zu verdienen.
Die Kategorie der „Siedler“ hingegen, zu denen die Hausa zählen, muss ihr Herkunftszertifikat in den Bundesländern beantragen, in denen ihre Ethnie die Alteingesessene ist. Für die Hausa bedeutet das Kano, Kaduna oder Bauchi. Aber eben nicht Plateau. „Schon mein Vater wurde in Plateau geboren“, schimpft der Imam, „und ich selbst kenne nichts anderes als Plateau.“ Für ihn ist der Konflikt deshalb nichts anderes als der Versuch der Landesregierung, sich eine Mehrheit zu sichern, indem eine ganze Gruppe politisch mundtot gemacht wird. „Die behaupten, wir Hausa hätten einen Dschihad gegen die Christen in Plateau begonnen. Das ist übelste Propaganda“.
Die tiefer gelegenen Ursachen des Konflikts in Jost ergründet nur, wer in die Geschichte von Plateau eintaucht. Die Region im so genannten „middle belt“ Nigerias war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts Anziehungspunkt für alle möglichen Ethnien, weil sich in den Zinnminen in Plateau Geld verdienen ließ. Aus dem muslimischen Norden kamen die Hausa, die als geschickte Händler bekannt sind, und die Fulani, traditionelle Viehzüchter. Aus dem christlichen Süden kamen die Yoruba und die Ibo, die Ijaw und die Karuni. Die in Plateau sesshafte Ethnie der Berom hieß alle willkommen.
„Identitätsexplosion“ in Nigeria: Weil die Hausa am besten organisiert waren, gelang es ihnen, die Kontrolle über die Stadt Jos zu übernehmen, bis die Berom sich ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit bewusst wurden und ihre Ansprüche geltend machten. Gleichwohl blieben die Hausa bis 1999 tonangebend, was damit zusammenhängt, dass Nigeria bis zu diesem Zeitpunkt nahezu ununterbrochen von Militärherrschern regiert wurde, die überwiegend aus dem Norden stammten. Mit der Einführung der Demokratie gewannen die Berom endgültig die politische Kontrolle, die ihnen die Hausa seither streitig machen. Das Resultat ist eine buchstäblich in zwei Teile zerfallene Stadt, in der Taxifahrer große Umwege fahren, um nicht in ein von der anderen Konfession kontrolliertes Viertel zu gelangen und dabei unter Umständen ihr Leben zu lassen.
Istifanus Nwansit kann die Vorwürfe der Hausa langsam nicht mehr hören. Dass die Landesregierung nicht mit den Hausa spreche? „Das ist doch Blödsinn“, sagt der Landtagspräsident von Plateau. „Mein Stellvertreter ist ein Hausa, den wir deshalb auf diesen Posten gesetzt haben, um mit der Hausa-Gemeinschaft reden zu können. Aber was macht der Mann? Statt sich mit der Regierung zu identifizieren, schimpft er auf uns, weil ihm seine eigene Gemeinschaft sonst an den Kragen gehen würde“, sagt Nwansit verärgert. Sieht er seine Regierung an vorderster Front im Kampf gegen einen Übernahmeversuch durch das muslimische Establishment aus dem Norden? Der Parlamentspräsident wiegt den Kopf. „Die wollen uns testen, das ist eindeutig. Und die wollen einen Emir in Jos installieren. Aber wir werden uns mit allen legalen und uns zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren“, sagt Nwansit.
„Identitätsexplosion“, nennt das Isawa Elaigwu. Der Soziologieprofessor mit dem Abschluss an der Universität von Stanford leitet das „Institute of Governance and Social Research“ in Jos, das sich auf Konfliktprävention spezialisiert hat. Was er mit „Identitätsexplosion“ meint, ist das politische Erwachen der Ureinwohner von Plateau, der Barom, die mit ihrer Emanzipation Forderungen erhoben haben, die zwangsläufig mit der Vormachtstellung der Hausa kollidieren mussten. Doch auch der Professor will sich nicht festlegen, ob der gegenwärtige Konflikt ein ethnischer oder möglicherweise doch ein religiöser ist. „Religion und ethnische Zugehörigkeit sind nur ein Vehikel zur Mobilisierung von Massen“, sagt er. Und was bewegt die Massen wirklich? „Armut“, sagt Elaigwu. „Armut und das Wissen, diese Armut nur dann hinter sich zu lassen, wenn die eigenen Leute die Regierung kontrollieren“. Zudem, und das sei das eigentliche Drama, gebe es „nicht die geringste Anstrengung“ der Exekutive, Recht und Ordnung durchzusetzen. Womit die Geschichte wieder bei den politischen Händeln wäre.
„Ich rede mit dem Teufel, wenn es sein muss“: Ignatius Kaigama ist der Erzbischof von Jos einer der wenigen Kirchenmänner, die den Kontakt zur anderen Seite nie haben abreißen lassen. „Ich rede mit dem Teufel, wenn es sein muss“, lacht er. Doch was ihn zunehmend frustriert ist die Tatsache, dass die Anarchie in Jos immer öfter straffrei bleibt. „Solange die Täter nicht ermittelt und bestraft werden, macht hier doch jeder, was er will“, sagt er. Mitte März starben zwei junge Männer, als sie eine selbstgebastelte Bombe auf einem Mofa transportierten und die Höllenmaschine bei einem Verkehrsunfall mitten in Jos explodierte.
Die Identität der Täter wurde nie festgestellt, das Nummernschild des Mopeds war verbrannt und die Mühe, die Überreste der Bombe zu untersuchen, machte sich auch niemand. Was den Bischof glauben lässt, die Unruhen in Jos seien irgendjemand von politischem Nutzen. Aber wem? „Das wüsste ich auch gerne“, sagt Kaigama. „Wir haben der Bundesregierung in Abuja Untersuchungsberichte geliefert, dick wie Telefonbücher. Aber es passiert einfach nichts“, sagt er.
Ein Grund dafür sind mit Sicherheit die bevorstehenden Wahlen. Präsident Goodluck Jonathan will es sich mit dem Establishment aus dem Norden nicht verderben, was das Oberhaupt der Muslime in Nigeria, der Sultan von Sokoto, zum Anlass nimmt, sich ständig ungefragt über die politische Lage in Plateau zu äußern. Schließlich liegt Plateau im Norden Nigerias, ist aber eine christlich dominierte Enklave, was dem Sultan überhaupt nicht passt. Der Bischof zuckt mit den Schultern. „Mag sein, dass es so ist“, sagt er. „Fest steht jedenfalls, dass das Schicksal von Plateau Auswirkungen auf das ganze Land haben wird“. {Quelle: www.faz.net}