Das Terrornetz Al-Kaida hat sich in Südostasien eine neue Basis aufgebaut – und führt von dort aus seinen Krieg weiter
Der Balinese Supardi Juwena steht vor den Trümmern des „Sari Clubs“ in Kuta. Blumenkränze liegen an den Absperrungen, auch eine Woche nach dem Attentat kommen noch Menschen zum Trauern hierher. Sie schweigen, zünden Kerzen an, viele weinen. Es riecht verbrannt. Und während Polizeiexperten aus Indonesien, Australien und Deutschland den Tatort des schlimmsten Anschlags seit dem 11. September 2001 nach Spuren durchsuchen, steht für Supardi der Schuldige längst fest: der Islam. „Das wird ein Nachspiel haben“, sagt der 26-jährige Hotelangestellte, „ein ganz brutales“. Er ist ein Hindu wie die meisten Inselbewohner. Zwei seiner Freunde starben in den Flammen. „Wir waren immer gegen die muslimischen Einwanderer von den Nachbarinseln. Das ist der Preis für unsere Toleranz“, sagt Supardi wütend. Die Muslime auf der „Insel der Götter“ trauen sich kaum mehr aus dem Haus. Die Trauer, befürchten sie, könnte schon bald in Hass umschlagen – auf alles, was islamisch aussieht.
Das Nachbeben des Attentats. Die Ferieninsel Bali galt als sicher trotz der immer wieder aufflammenden ethnischen Unruhen im mehrheitlich muslimischen Indonesien – bis zum Samstag der vorvergangenen Woche, als eine Autobombe im Vergnügungsviertel von Kuta einen ganzen Straßenzug in ein Trümmerfeld verwandelte. Die Fahnder vermuten, dass hinter dem perfekt organisierten Anschlag altbekannte Profis stehen. Die Explosion, so die Annahme, sei durch den Plastiksprengstoff C4 ausgelöst worden. Derselbe Sprengstoff zerstörte exakt zwei Jahre vor dem Bali-Attentat das US-Kriegsschiff „Cole“ vor dem Jemen. Tatverdächtige damals: das Terrornetzwerk Al-Qaida. Tatverdächtige heute: Al-Qaida – beziehungsweise deren indonesische Filiale Jemaah Islamiah (JI).
„Keine andere radikale Organisation hat die Mittel für einen solchen Anschlag“, sagt der international renommierte Terrorismusforscher und Al-Qaida-Kenner Rohan Gunaratna. Dass zeitgleich vor dem US-Konsulat in der balinesischen Provinzhauptstadt Denpasar und auf Sulawesi Bomben hochgingen, deute ebenfalls auf Al-Qaida hin. Der mutmaßliche spirituelle Führer der Jemaah Islamiah, der 63-jährige Prediger Abu Bakar Bashir, ist den indonesischen Behörden lange bekannt (FOCUS 21/2002). Aus Angst vor dem Unmut der muslimischen Bevölkerung ließ Präsidentin Megawati Sukarnoputri den Radikalen gewähren, obwohl amerikanische Experten die Behörden vor „Terrorattentaten gegen westliche Touristenziele“ gewarnt hatten. Der letzte Hinweis kam aus dem US-Außenministerium – einen Tag bevor die Bomben explodierten: Die möglichen Ziele könnten auch „Schulen, Kirchen und Nachtclubs“ sein, hieß es in der Mitteilung. „Die Informationen waren nicht spezifisch, was Ort und Zeitpunkt des Anschlags betraf“, sagt ein Beamter. „Aber es gab eine Menge Hinweise, dass etwas passieren würde“.
Zu den Informanten zählte auch ein hochrangiges Al-Qaida-Mitglied: der Südostasien-Koordinator der Terrorgruppe, Omar Al-Faruq (FOCUS 39/2002). Indonesische Fahnder hatten den 31-Jährigen im Juni auf Java festgenommen und später den US-Behörden überstellt. Drei Monate trotzte Al-Faruq den rigiden Verhörtaktiken der US-Ermittler – von Isolationshaft über tagelangen Schlafentzug bis hin zur Dauerbeschallung mit ohrenbetäubender Musik von US-Rapper Eminem. Am 9. September brach al-Faruq zusammen und legte ein Geständnis ab: In den Wochen um den ersten Jahrestag des 11. September seien simultane Bombenattentate auf westliche Einrichtungen in Südostasien geplant, zum Teil mit der Hilfe lokaler Terrorgruppen.
Die indonesische Regierung zeigte sich wenig beeindruckt. Es sei zweifelhaft, dass Al-Kaida gemeinsam mit Jeemah Islamiah Terroranschläge plane. Dennoch nahmen indonesische Ermittler die Einladung der US-Behörden an, Al-Faruq im US-Militärlager Baghram in Afghanistan selbst zu vernehmen. Das Verhör fand am 12. Oktober statt. Am Abend explodierten auf Bali die Terrorbomben. Das war wohl erst der Auftakt. Experten befürchten, dass sich Al-Kaida in der schwer kontrollierbaren Inselwelt Südostasiens eine neue Basis aufgebaut hat und von dort aus seinen Krieg gegen alles Westliche weiterführt. 17500 Inseln hat allein Indonesien, der mit 230 Millionen Einwohnern – 87 Prozent davon Muslime – bevölkerungsreichste muslimische Staat der Welt.
Thailand, Malaysia, die Philippinen – in jedem dieser Länder kämpfen schwache Regierungen seit Jahrzehnten einen schier aussichtslosen Kampf gegen lokale islamistische Terrorgruppen (siehe Karte). Osama bin Ladens Terror-Holding, vermutet der Al-Kaida-Experte Gunaratna, habe diese Gruppen längst unterwandert und vor allem die Jemaah Islamiah zur Terrorzentrale in Südostasien ausgebaut.
Seit dem Sturz des indonesischen Diktators Suharto 1998, der den radikalen Islam mit Militärgewalt unterdrückte, profitierten Terroristen vom Chaos und der Korruption im Inselstaat. Fanatiker wie Abu Bakar Bashir konnten unbehelligt Koranschulen aufbauen und Mitglieder rekrutieren. Das Geld kam von Al-Qaida, das terroristische Handwerkszeug erlernte der fundamentalistische Nachwuchs in Trainingscamps in Afghanistan und später direkt in Indonesien. Vor allem beim südlichen Anrainer wächst deshalb die Angst. Die Australier, die sich am anderen Ende der Welt bislang in Sicherheit fühlten, fordern von ihren asiatischen Nachbarn, endlich massiv gegen die militanten Muslimgruppen vorzugehen. Über 30 Australier kamen bei den Anschlägen ums Leben, 140 werden noch vermisst – deren Angehörige haben kaum noch Hoffnung.
„Unsere Kinder weinen den ganzen Tag, wir haben seit dem Anschlag kaum geschlafen“, sagt die Australierin Angie Smith, grau im Gesicht vor Erschöpfung. Jedes Jahr war ihre Familie von Sydney aus in den Bali-Urlaub gefahren. Jetzt hat sie bei dem Attentat ihre Schwester verloren, ihr Schwager sucht auf Bali noch verzweifelt nach der jüngsten Tochter. Premierminister John Howard forderte Ende vergangener Woche seine Landsleute auf, Indonesien zu verlassen: Seine Sicherheitsbehörden hatten vor neuen Anschlägen gewarnt.
„Das betrifft nicht nur Asien, das betrifft die ganze Welt“, glaubt Richard Shelby, führender Republikaner im Geheimdienst-Komitee des US-Senats: „Jeder, die USA eingeschlossen, ist in Gefahr.“ Shelby stützt seine Prognose auf jüngste CIA-Dossiers und auf Protokolle der National Security Agency (NSA), die für elektronische Spionage zuständig ist. Laut NSA habe die Kommunikation zwischen mutmaßlichen Terrorzellen in den vergangenen Wochen auffallend zugenommen. Shelby: „Wir erleben derzeit ein Niveau wie vor dem 11. September.“
Der Krieg gegen den Terror ist damit gescheitert, fürchtet Al-Qaida-Experte Gunaratna: „Es ist den USA und ihren Verbündeten nicht gelungen, die Führungsspitze auszuschalten. Das Netzwerk funktioniert nach wie vor.“ Erst vor kurzem wurden wieder Tonbänder veröffentlicht, in denen Osama bin Laden und dessen Stellvertreter, Ayman al-Zawa-hiri, dem Westen mit weiteren Attentaten gegen wirtschaftliche Ziele drohen.
Insider sehen in dieser Drohung eine Änderung der Terrortaktik Al-Kaidas. Offenbar gehe es den Terroristen nicht mehr so sehr um groß angelegte Operationen wie die vom 11. September, sondern um kleinere Attentate auf leicht zu treffende Ziele – dafür häufiger, unberechenbarer und ebenso tödlich. „Soft Targets“ heißen Terrorziele wie der Nachtclub auf Bali bei Fahndern: Sie sind angreifbar, weil sie weitgehend ungeschützt sind. Die Täter brauchen nur ein Auto mit Sprengstoff vor einer Tür abzustellen. Terror dieses Kalibers lässt sich schwerlich bekämpfen. Es gilt mittlerweile als gesichert, dass die Al-Kaida-Mitglieder nicht erst auf einen Befehl „von oben“ warten müssen, bevor sie zuschlagen, sondern unabhängig arbeiten. „Auch eine kleine Gruppe kann auf diese Art und Weise einen immensen Schaden anrichten“, bilanziert die International Crisis Group in Brüssel. „Wir müssen sowohl daheim als auch in Übersee mit mehrfachen simultanen Anschlägen rechnen“, warnte CIA-Direktor George Tenet am vorigen Freitag. „Al-Kaida befindet sich in einer Angriffsphase“.
Thailand: Über die Stärke der Pulo ist nach militärischen Offensiven Bangkoks wenig bekannt. Die Ziele: Die Pulo (Vereinigte Befreiungsorganisation Pattani) will den muslimisch geprägten Süden Thailands an Malaysia anschließen. Die Bevölkerung bleibt skeptisch.
Die Methoden: Bevorzugte Anschlagsziele der Pulo sind öffentliche Gebäude wie Polizeiwachen oder Bahnhöfe. Touristen oder andere Ausländer haben sie bisher nicht bedroht.
Philippinen: Seit der Entführung der Wallerts ist Abu Sayyaf auch in Deutschland bekannt. Die Ziele: Die Abu Sayyaf geben sich als Islamisten aus, ihre Ziele sind unklar. Eine andere Gruppe, die MILF (12000 Mitglieder), kämpft für einen unabhängigen Staat im Süden. Die Methoden: Geld macht Abu Sayyaf mit Kidnapping und Erpressung. Vergangene Woche gab es auf den Philippinen drei Bombenanschläge mit zehn Toten – Täter unbekannt.
Malaysia: Die KMM hat ihre Wurzeln in den Trainingcamps Afghanistans. Die Ziele: Die Kumpulan Mujahidin Malaysia (KMM) will einen islamischen Staat errichten. Angeblich hat sie enge Verbindungen zu regionalen Gruppen und der Al-Kaida. Die Methoden: Überfälle, Bombenanschläge und die Ermordung eines Abgeordneten werden der KMM vorgeworfen. Außerdem soll sie Attentate auf Ausländer geplant haben.
Indonesien: Jemaah Islamiah wird mit den Anschlägen auf Bali in Verbindung gebracht. Die Ziele: Wie die KMM will die Islamische Gruppe einen Gottesstaat in Südostasien. Sie gilt als die gefährlichste Terrorgruppe der Region – mit guten Kontakten zu Al-Kaida. Die Methoden: Jemaah Islamiah werden mehrere Bombenattentate zur Last gelegt. Angeblich unterstützte JI auch die Gruppe Laskar Jihad, die in Indonesien Jagd auf Christen machte.
Blutige Spur: Fahnder werten eine Reihe von Attentaten als Vorwarnung für Bali.
2.10.02 Zamboanga/Philippinen: Vor dem Armee-Camp in Malagutay explodiert eine Bombe. Ein amerikanischer Soldat wird getötet, mehrere verletzt.
6.10.02 al-Mukalla/Jemen: Ein offensichtlich mit TNT beladenes Boot nimmt Kurs auf den französischen Tanker „Limburg“, eine Sprengladung detoniert.
9.10.02 Failaka Island/Kuwait Anschlag mit einem Toten und mehreren Verletzten: Verteidigungsminister al-Sabah besucht einen US-Soldaten im Krankenhaus.
{www.focus.de – 21.10.2002 – von den FOCUS-Korrespondenten Gunnar Heesch (Bangkok) und Peter Gruber (Washington) – FOCUS Magazin | Nr. 43 (2002)}