Wie bringt man islamistische Gewalttäter auf den Pfad der Tugend? Der Verfassungsschutz weiß es nicht, startet aber ein Programm. Ein Reparaturbetrieb für die Versäumnisse in der Integrationspolitik?
Irgendwann in den kommenden Wochen soll Rami M. wieder nach Deutschland kommen. Der 25 Jahre alte Mann aus Hamburg hatte sich vor mehr als 15 Monaten mit einer Gruppe Islamisten in das Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan begeben. Er schloss sich dort der Islamischen Bewegung Usbekistans an, einer der örtlichen Terrorgruppen. In ihren Reihen wurde er an Waffen ausgebildet, kämpfte angeblich auch selbst. In den vergangenen Wochen hat Rami M. die deutschen Sicherheitsbehörden stark beschäftigt. Er meldete sich Mitte Juni unter seinem richtigen Namen telefonisch in der Deutschen Botschaft in Islamabad und sagte, dass er mit internationalem Haftbefehl gesucht würde. Er wollte die Botschaft aufsuchen, um einen neuen Reisepass zu bekommen, und sich in Deutschland den Behörden stellen. Der Passbeamte gab ihm einen baldigen Termin, sandte ihm später per Mail einen Passierschein, damit er die Botschaft erreichen könnte.
Doch das Bundesinnenministerium entschied anders. Rami M. galt als zu gefährlich. Was, wenn er sich in der Botschaft in die Luft sprengen wollte? Der Zufall wollte es, dass der pakistanische Geheimdienst ein solches angebliches Ansinnen den deutschen Partnern meldete, zwei Tage vor dem vereinbarten Botschaftstermin.Innenstaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche entschied, der pakistanischen Polizei einen Tipp zu geben. Rami M. sollte vor der Botschaft verhaftet werden. Doch die Festnahme erfolgte dreihundert Kilometer von Islamabad entfernt durch die pakistanische Armee. Offensichtlich interessierten sich auch andere Kräfte für den Islamisten aus Hamburg, manche meinen, es seien die Amerikaner. Jedenfalls sitzt Rami M. nun in einem Gefängnis des für seine Verhörmethoden berüchtigten pakistanischen Geheimdienstes ISI und wartet auf die Abschiebung nach Deutschland.
„Heraus Aus Terrorismus und Islamistischem Fanatismus“: Bombenleger oder Aussteiger? Sicher ist, dass eine Reihe Deutscher, die in den Dschihad nach Pakistan und Afghanistan zogen, heute desillusioniert sind, manche an Rückkehr denken. Die Lebensumstände empfinden sie als bedrückend, durch die Offensive der pakistanischen Armee und der Amerikaner schweben sie in Lebensgefahr. Verfassungsschützer meinen, dass Rami M. wirklich aussteigen wollte. Wenn es so war, werden es ihm andere kaum gleichtun. Für das Aussteigerprogramm für Islamisten, zu Beginn der Woche vom Bundesamt für Verfassungsschutz ins Leben gerufen, ist der Fall Rami M. kein günstiger Start.
„Aussteigerprogramm“ ist allerdings selbst Verfassungsschützern ein zu hochtrabender Begriff. Nicht zuletzt dient er dazu, einer entsprechenden Vereinbarung im Koalitionsvertrag gerecht zu werden. Bis jetzt hat das Bundesamt für Verfassungsschutz unter dem Begriff HATIF ein Telefon geschaltet, bei dem sich Personen melden können, die sich aus einem islamistischen Umfeld lösen wollen. Vor allem Angehörige und Freunde sollen dort Rat und Unterstützung finden. HATIF steht für „Heraus Aus Terrorismus und Islamistischem Fanatismus“, es ist auch das arabische Wort für Telefon. Wer sich dort melden wird, ist höchst ungewiss. An ein Programm, wie es jahrelang für Rechtsextremisten angeboten wurde und das Hilfe bis weit in die sozialen und persönlichen Belange hinein gewährte, ist jedenfalls nicht gedacht. Zahlen über Erfolge und die hohen Kosten des Programms für rechtsextremistische Aussteiger sind wohlweislich nie veröffentlicht worden.
Vom gewaltbereiten Islamisten zum nicht gewaltbereiten Islamisten: Mit Aussteigern aus dem islamistischen Terrorismus gibt es kaum Erfahrungen. Der Verfassungsschutz kennt bisher ganze drei Fälle, in denen die Charakterisierung „Aussteiger“ mehr oder minder angemessen erscheint. In einem Fall hatte ein junger Mann entschieden, den Kampf mit der Waffe aufzugeben, nachdem er bei einem Gefecht in Pakistan die erste Leiche seines Lebens neben sich fand. Einen Ausstieg aus der islamistischen Ideologie bedeutet das noch nicht. Einig sind sich die Sicherheitsbehörden, die im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin seit einiger Zeit über die „Deradikalisierung“ von Islamisten diskutieren, bisher nur darin, dass staatliche Institutionen nicht versuchen können, Leute vom Islam abzubringen. Dass Islamismus etwas mit Islam zu tun hat, ist allerdings kaum zu bestreiten. Soll man also gewaltbereite Islamisten dazu bringen, nicht gewaltbereite Islamisten zu werden? Sollen sie nach dem Ausstieg bei Milli Görüs oder der Muslimbruderschaft „einsteigen“, bei Organisationen also, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden? Ergibt ein Aussteigerprogramm Sinn, das allein darauf zielt, dass jemand der Gewalt abschwört? In Saudi-Arabien etwa werden islamistische Terroristen dazu gebracht, dass sie nicht mehr mit Gewalt gegen das saudische Königshaus vorgehen. Hartgesottene Islamisten bleiben sie dennoch.
Gegenbotschaft unter die radikalisierten Muslime bringen: Um zu einer Strategie der Deradikalisierung zu kommen, bedarf es der Analyse, wie junge Männer und Frauen radikale Islamisten werden. Peter R. Neumann, der sich am King’s College in London mit solchen Fragen beschäftigt, nennt vier Faktoren für Radikalisierung. Es gebe ein Gefühl der Ablehnung und Diskriminierung in der westlichen Gesellschaft, hinzu komme eine einfache Ideologie („Der Westen führt einen Krieg gegen den Islam“), die Mobilisierung durch einen Gruppe oder einen Freundeskreis spiele eine Rolle, zuletzt kämen bestimmte Ereignisse dazu, die als Katalysatoren wirkten, wie etwa die Mohammed-Karikaturen oder die Misshandlungen von Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Neumann schlägt unter anderem vor, eines „Gegenbotschaft“ unter die radikalisierten Muslime zu bringen, in der etwa darauf hingewiesen wird, dass Al-Kaida mehr Muslime als Christen oder Juden umgebracht hat. Die Botschaft müsse von Muslimen selbst formuliert werden. Die deutschen Sicherheitsbehörden sehen es denn auch als ihren wichtigsten Ansatz, Imame und Prediger dafür zu gewinnen, entsprechende Botschaften zu verkünden. Etwa 30 solcher religiöser Autoritäten des Islams in Deutschland hat man ausgemacht, die für diese Rolle in Frage kommen. Doch das Projekt steckt noch in den Anfängen.
Verfassungsschützer als Sozialbetreuer? „Imame haben oft wenig Verständnis für Jugendliche, die einen radikalen Weg zwecks Selbstaufwertung gehen“, sagt Claudia Dantschke vom Zentrum für Demokratische Kultur. Dort setzt man bei Aussteigerprogrammen auf Familienhilfe. Das Umfeld – Geschwister, Eltern – sei wichtig dafür, dass sich langsam eine Motivation zum Ausstieg entwickele. „Die Klientel, die bei uns Hilfe sucht, steht allerdings meist distanziert zur Religion“, sagt Dantschke. Streng konservative muslimische Familien, die aber eine Radikalisierung ihrer Kinder ablehnen, kämen nicht. „Von ihnen wissen wir sehr wenig“, sagt die Islamismus-Expertin. „Gerade hier könnten Imame eine wichtige Rolle spielen“. Bisher fehlt es an Ansprechpartnern für Familien, in denen etwa ein Sohn nach schulischem Versagen seine Selbstbestätigung in einer radikalen islamistischen Gruppe sucht. Auch Selbsthilfegruppen von Angehörigen, deren Kinder in die radikale islamistische Szene abgerutscht sind oder die sich in die Ausbildungslager nach Pakistan abgesetzt haben, gibt es nicht. „Viele, die zu uns kommen, sind schon von Beratungsstelle zu Beratungsstelle verwiesen worden“, sagt Dantschke. Und die wenigen Initiativen, die es in Deutschland gibt, sind bislang auch nicht miteinander vernetzt. Umstritten ist zudem, welche Rolle der Verfassungsschutz für ein Aussteigerprogramm spielen kann. Zu dessen täglicher Arbeit gehört es, Leute aus dem radikalen Milieu gezielt anzusprechen, Informationen abzuschöpfen, auch etwa Pässe einzuziehen, um Ausreisen in Ausbildungslager zu verhindern. Mit einer Art Sozialbetreuung sehen sich die meisten Verfassungsschützer überfordert oder halten das für widersprüchlich für ihre eigentliche Arbeit. Manche Landesämter halten das Programm schlichtweg für falsch. Bayern etwa steht ihm skeptisch gegenüber. Imame gezielt anzusprechen, um sie für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, lehnt man dort ab. Man wolle nicht der Reparaturbetrieb für die Versäumnisse in der Integrationspolitik sein.
Von Markus Wehner, Berlin – Bildmaterial: F.A.Z.-Greser&Lenz