Nach massiver Hetze und mehreren Attentaten verlassen junge jüdische Familien in großer Zahl die südschwedische Stadt Malmö. Es ist eine Situation entstanden, in der sich plötzlich die in Südschweden notorischen Neonazis mit immer aggressiver auftretenden Migrantengangs auf einer Seite wiederfinden: vereint gegen sogenannte Zionisten. Schweden ist „Bullerbü“! Man duzt sich in der Sommerhaus-Idylle und ist stolz, dass hier alle Menschen gleich sind. Die kleine Lisa in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Bullerbü“ sagt, dass ihr alle Menschen leid tun, die nicht in „Bullerbü“ leben können. Ausgerechnet hier scheint für Juden jetzt kein Platz mehr zu sein. Aus der südschwedischen Stadt Malmö ziehen sie zu Dutzenden weg und fliehen vor Anfeindungen und Übergriffen radikaler Moslems. Und die Schweden? Sie gucken weg. Die Polizei ist auf der Seite der Attackierer.
Die 19-jährige Nina Tojzner ist eine von knapp 1000 jüdischen Einwohnern Malmös. Sie sagt, die Angst unter den Juden begann auf dem Rathausplatz, als eine Demonstration von Juden von jungen Moslems attackiert wurde. „Es waren alte Menschen, die den Holocaust überlebt hatten, Erwachsene und Kinder“, berichtet sie, „als man uns mit Flaschen und Steinen bewarf, mit Raketen auf uns schoss und dann den Strom kappte“. Die Polizei verteidigte nicht etwa die jüdischen Demonstranten gegen die Angreifer, sondern ermahnte sie, ihren Zug aufzulösen. „Wir sollten zwischen diesen beiden Gebäuden fliehen“, zeigt Nina. „Und sie sagten, wir sollten rennen und uns mit der schwedischen Bevölkerung vermischen, so dass man uns nicht mehr so bemerkt“.
Rosengård ist ein Beton-Ghetto am Rande Malmös. Hier leben 30.000 Moslems, jeder vierte Einwohner der Stadt am Öresund. Einige von ihnen, vor allem junge Moslems, haben sich in sogenannten Kellermoscheen radikalisiert und frönen einem neuen Antisemitismus. Vor ihnen fliehen Malmös Juden. Shneur Kesselman ist Rabbi in Malmö. Er wirft den Politiker der Stadt vor, die kleine jüdische Gemeinde dem antisemitischen Mob auszuliefern, um sich nicht mit den Moslems anlegen zu müssen. „Man muss verstehen, dass liberal nicht bedeutet, dass man alles erlaubt“, sagt Kesselman. „Schweden muss sich entscheiden, was aus seinen Liberalismus werden soll“.
Ignoranz statt Toleranz! Kesselman, der 2004 von Detroit nach Malmö kam, findet Bullerbü und die Schweden nämlich nicht frei, sondern feige. Es zeige Ignoranz anstelle von Toleranz: ”Man scheut Konflikte“, sagt er. „Man kann sagen, dass die Schweden versucht haben, sich herauszuhalten. Die Schweden wollen keine Konflikte und sich da nicht einmischen. Ich vermute, dass manche sogar glauben, es sei die Schuld der Juden, dass wir angegriffen werden“. Ist Bullerbü abgebrannt? Ist die antiautoritäre Grundeinstellung der Schweden am Ende gar der Nährboden einer neuen Woge des Rassismus? Nach dem Motto: Selbst schuld, wer anders ist?
Adly Abu Hajar ist Imam in Malmö. In seinem Haus unterrichtet er Jugendliche in Islamkunde. ”Jugendliche zwischen 13 und 15 brauchen Ausbildung in Moral und Ethik“, sagt er. „Die Kinder machen sonst, was sie wollen“. Wie Rabbi Kesselman gibt auch der Imam den Schweden die Schuld an der Eskalation. Sie lebten in einer Gesellschaft ohne Respekt aus lauter Konfliktscheue. Sogar er, der Imam, widersetze sich dem radikalem Islamismus mehr als die Schweden. „Ich unterstütze das Gesetz gegen Burka und Nikab in Belgien“, sagt Hajar. „Und ich hoffe, dass es in ganz Europa gelten wird. Denn das ist nicht der Islam, sondern Tradition. Das ist unakzeptabel“.
Erziehung in gemeinschaftlichen Miteinander: Es scheint, als brauche Bullerbü eine Super-Nanny, die den Schweden beibringt, dass man mit Duzen allein keine sozialen Konflikte löst. Der Schriftsteller Per Olov Enquist gilt vielen als Symbolfigur des skandinavischen Humanismus. Für ihn gehört der Verzicht auf autoritäres Gehabe zu den großen Errungenschaften der schwedischer Kultur. „Wir haben eine lange Erziehung im gemeinschaftlich Miteinander hinter uns“, erklärt Enquist. „In den kleinen Dörfern und Fabriken hat man zusammengesessen und in den Versammlungen die richtigen Umgangsformen geübt.
‚Eriksson hat das Wort, bitte. Johansson: Zwischenfrage.‘ Und so haben wir unsere demokratischen Regeln gelernt“. Bullerbü, das sind in Wirklichkeit die kulturellen Kernwerte, die die Schweden so gerne aus früheren Zeiten hinüber retten wollen in eine urbane Multikultigesellschaft. „Für Menschen aus irakischen Dörfern klingt das seltsam, wenn die schwedischen Stadtbewohner von ihren Dörfern und ihren Bullerbü-Träume schwärmen“, sagt Enquist. „Die fragen sich: Wo gibt’s denn das?“ Und deshalb, sei es geradezu die Pflicht der Schweden, sich einzumischen und den Neubürgern zu erklären, wie man Basisdemokratie à la Bullerbü lebt. Nur dann könne das schwedische Modell erfolgreicher sein als beispielsweise das autoritärere Dänemark, das man von Malmö aus mit bloßem Auge sehen kann.