Seit fünf Jahren gibt es in der Türkei eine paranoide Stimmungsmache gegen christliche Missionare. Sie wird proklamiert von Staatsorganen, auf die Spitze getrieben in Internetforen, und kulminierte in der bestialischen Ermordung von drei Mitarbeitern eines kleinen Bibelverlages. Die Rede ist, wohlgemerkt, nicht von den etablierten Kirchen, sondern von den sogenannten evangelikalischen Freikirchen, die tatsächlich aggressiv missionieren und nach eigenen Angaben in der Türkei mittlerweile 4000 bis 5000 Anhänger haben. Es ist die einzige wachsende Christengemeinde im Land. Oft sind amerikanische Prediger die Pioniere, gründen kleine Zellen und reisen dann weiter, um in der nächsten Stadt die nächste Gemeinde zu gründen.
Nach türkischem Gesetz ist Missionierung ein Verbrechen. Das ist aber nicht der Grund, warum der türkische Staat auf die Missionare losgeht. Die Behörden sehen in den Missionaren nichts weniger als das nahende Ende der Türkei. Es ist eines der seltenen Themen, zu denen das säkulare Militär und die islamisch geprägte Regierung einer Meinung sind. Zum ersten Mal wurde diese These im Dezember 2002 vom Nationalen Sicherheitsrat ausformuliert, in dem das Militär den Ton angibt und der zivilen Regierung “Ratschläge” erteilt. Das Gremium befand auf dieser Sitzung, dass “die missionarische Tätigkeit in der Türkei eine Bedrohung der nationalen Sicherheit” darstellt. Wie diese Bedrohung konkret aussehen soll, das mussten sich alle Muslime anhören, die am 11.03.2005 zum Freitagsgebet in die Moscheen kamen. In der Türkei diktiert der Staat, was muslimisch ist und was nicht, die Predigten werden zentral verfasst und müssen von allen Imamen vom Blatt abgelesen werden. An jenem Tag waren die Missionare das Thema der staatlichen Pflichtpredigt.
Sie wurden als Agenten feindlicher (westlicher) Mächte dargestellt: „Sie haben versucht, den Islam und die Muslime aus der Welt zu schaffen mit der Methode der Heiligen Armeen (Kreuzzüge, d. Red.). Sie haben ihre Ziele aber nicht erreichen können. Auch heute sind dieselben Mächte am Werk, die den Islam als größtes Hindernis für ihre Vorherrschaft sehen und deswegen unsere Menschen vom Islam abbringen wollen und zielstrebig daran arbeiten“. Weiter hieß es über die Missionare: „Sie versuchen, unsere Kinder und Jugendliche vom Glauben abzubringen, in dem sie ethnische und konfessionelle Unterschiede ausnutzen, sowie politische und wirtschaftliche Probleme“.
Die US-Botschaft protestierte: Wegen dieser Predigt kam es zu Protesten der amerikanischen Botschaft, auf die Religionsminister Mehmet Aydin und der Chef des Religionsamtes, Ali Bardakoglu, gereizt reagierten. Aydin soll eine Parlamentsdebatte über Missionare gefordert haben, und Bardakoglu sagte dem Fernsehsender CNN, die Missionare seien “ein Mittel internationaler Pläne und Berechnungen”. Im Dezember 2006 sagte Bildungsminister Celik eine “Sturmflut” von Missionaren voraus, und Zeitungskolumnist Serkan Talan wurde mit den Worten zitiert, es gebe “25.000 Missionare” in der Türkei.
Nur, wo sind sie? Den medialen Suggestionen steht eine Lebensrealität gegenüber, in der kaum ein Türke je einen leibhaftigen Missionar zu sehen bekommen hat. Das jedenfalls ergab eine Studie des Sozialforschungsinstituts Tesev (dem Nationalisten typischerweise vorwerfen, jüdisch-amerikanisch finanziert zu sein). Besonders perfide wird die Stimmungsmache in Jugendmedien und im Internet. In der Zeitschrift “Jugendfront” wurde den jungen Menschen erzählt, die “Caritas” sei eine missionarische Organisation, die mit der atheistischen PKK zusammenarbeite, dass die EU “Milliarden von Dollar” in die Missionierung der Türkei investiere, und dass dies unter der AKP-Regierung dramatisch zugenommen habe. Der Artikel der Zeitschrift, die laut Impressum von der großen Oppositionspartei CHP, dem “Nationalistenclub Istanbul” und dem „Verein kemalistischer Universitäten” mitgetragen wird, endet mit einer ominösen Todesdrohung: “Die Missionare dürfen nicht vergessen, dass 1920 der Priester Chrisostomos vom Volk gelyncht wurde“.
Gründungstrauma der Türkei nimmt immer neue Formen an: Die Angst, die Westmächte wollten das Land zerteilen, ist das Gründungstrauma der Türkei. Diese fast obsessive kollektive Urangst nimmt immer neue Formen an; gegenwärtig scheint es, als wollten die Kemalisten die islamisch geprägte Regierung bei den religiös gesinnten Wählern dadurch in Misskredit bringen, dass sie die AKP als Förderer der Missionare darstellen; umgekehrt kostet es die AKP nichts, genauso giftig auf die Missionare einzuschlagen, um sich keine politische Blöße zu geben. Wohin das führen kann, zeigten die Morde von Malatya.