Mehr als ein Drittel aller Ehen in der Türkei sind Kinder-Ehen. Westlich orientierte Türken schäumen über die Unsitte, reichen alten Männern junge Mädchen zur Frau zu geben. Es ist eine schwierige Debatte in einem Land, in dem Staatspräsident Gül seine Frau Hayrünissa zwei Tage nach deren 15. Geburtstag heiratete.
Am Sonntag versuchte eine junge Frau namens Nazlican Toprak, sich das Leben zu nehmen. Im Istanbuler Nobel-Stadtteil Istinye nahm sie die Schlaftabletten ihres Mannes und schluckte sie alle. Er merkte es, ließ sie rechtzeitig ins Krankenhaus bringen, sie überlebte. Sie sei deprimiert gewesen, sagt sie als es ihr wieder besser ging. Die Geschichte klingt nach einer traurigen, aber alltäglichen Sache – Depression, Todeswunsch, glücklicherweise ein glimpfliches Ende. Ein Detail hat diesen Fall jedoch zu einem Skandal gemacht, der die Türkei erschüttert. Der Gatte, Halis Toprak, ist ein berühmter Geschäftsmann. Er ist 71 Jahre alt und hat ein Dutzend Kinder. Die meisten von ihnen sind älter als seine junge Frau. Denn Nazlican ist 17 Jahre jung. Es ist ein Altersunterschied von 54 Jahren. Sie hatten erst vergangenen Sommer geheiratet. Ihre Familie ist arm. Er hatte versprochen, ihnen finanziell zu helfen. Nazlican ist eine gekaufte Braut, minderjährig. In den Medien wird eine von der Sabanci-Universität finanzierte Untersuchung zitiert, wonach 37% aller Ehen landesweit Kinder-Ehen sind – wo also ein Ehepartner, meistens die Frau, jünger ist als 18 Jahre und das Einverständnis ihrer Eltern braucht. Die hatten in diesem Fall auch ihr Einverständnis gegeben.
Nun schämt sich der modernere Teil der Türkei über die Unsitte, reichen, alten Männern junge Mädchen zur Frau zu geben. Es ist fast nie ein Thema in den Medien, und sogar einigermaßen salonfähig, denn man kann ja auf Staatspräsident Abdullah Gül zeigen: Er heiratete seine Frau Hayrünissa Gül zwei Tage nach deren 15. Geburtstag. Die Eltern hatten die Ehe arrangiert. Es ist eine Musterehe daraus geworden, und Hayrünissa kämpft, wie ihr Mann, für die Freiheit, religiöse Überzeugungen zu leben. Nur, zu diesen Überzeugungen gehört, zumindest im Volk, auch die Kinder-Ehe. Hat nicht auch der Prophet dies vorgelebt? Im Südosten des Landes sind angeblich 68% aller Ehen nur deswegen legal, weil die Eltern die schriftliche Erlaubnis geben, dass ihre minderjährige Tochter heiraten darf. Korrekter müsste es in vielen Fällen heißen: Heiraten muss. Denn ist sind es arrangierte Zwangsehen, und das Kind dabei so etwas wie eine Ware.
Ich kann mir höchstens eine privilegierte Partnerschaft vorstellen. Offiziell darf man in der Türkei mit 17 Jahren heiraten, wenn denn die Eltern schriftlich ihren Segen geben. Auch 16 Jahre ist in Ordnung, wenn „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, eine Schwangerschaft beispielsweise, und ein Richter die Eheschließung genehmigt. Es ist oft eine Frage von Leben und Tod – wenn das Mädchen ein Kind zur Welt bringt, ohne verheiratet zu sein, bringt das Schande über die Familie und kann ihren Tod durch „Ehrenmord“ bedeuten. Nach Angaben des Bildungsministeriums haben allein in diesem Jahr 693 Kinder die achte Klasse abgebrochen, weil sie heirateten. Nur 18 dieser jungen Menschen waren Jungen. Die Regierung arbeitet an Strategien, um Eheschließungen von Minderjährigen zu reduzieren. Gerade erst veröffentlichte eine Untersuchungskommission des Parlaments ihre Erkentnisse und schlug vor, dass Heiratsalters auf 18 zu erhöhen und Familien zu bestrafen, die ihre Töchter der Schulpflicht entziehen. Solange allerdings Staatspräsident Gül als Musterbeispiel vorangeht, wird es schwer sein, das Volk in eine andere Richtung zu lenken.
Der türkische Staatspräsident Abdullah Gül heiratete seine Frau als sie 15 Jahre jung war – Von Boris Kálnoky