Der Alkohol ist ins Visier der afghanischen Sittenwächter geraten. Die Polizei greift hart durch: Wer Alkohol verkauft, kauft oder konsumiert, muss mit Geldstrafe, Gefängnis oder 60 Peitschenhieben rechnen. Zuletzt wurden Kellnerinnen aus Kabul auf Polizeiwachen entwürdigenden „Untersuchungen“ ausgesetzt. Bereits im November vergangenen Jahres wurden in der Stadt Kundus etwa 7000 ungeöffnete Flaschen mit alkoholischen Getränken ins Feuer geworfen und zerstört. Die „engen Bande“ zwischen dem Westen und seinem Land beschwor der afghanische Präsident Hamid Karsai dieser Tage häufig: Zuerst in Washington als Gast von US-Präsident Barack Obama und anschließend in London als erster internationaler Besucher des neuen Premierministers David Cameron. Zur gleichen Zeit führen Behörden daheim mit dem Segen des frommen Karsai einen Feldzug für die Wiederherstellung islamischer Werte und gegen „westliche Dekadenz“.
Der Alkohol ist ins Visier der Sittenwächter der Islamischen Republik Afghanistan geraten. In den vergangenen Wochen gab es verstärkt Razzien gegen Restaurants und Klubs in der Hauptstadt Kabul, in denen ausländische Diplomaten und Wiederaufbauhelfer Wein, Bier und härtere Drinks genießen. Kellnerinnen wurden auf Polizeiwachen entwürdigenden „Untersuchungen“ ausgesetzt. Offiziell sollte festgestellt werden, ob sie sich prostituierten. Tatsächlich verfolgen die Schikanen, bei denen sich die Frauen nach ihren Aussagen vor angeblichen Ärzten entkleiden mussten, offenkundig nur den Zweck, die Gastronomen einzuschüchtern.
Bereits im November vergangenen Jahres wurden in der Stadt Kundus etwa 7000 ungeöffnete Flaschen mit alkoholischen Getränken und zudem etwa ein Kilo Heroin ins Feuer geworfen und zerstört. Kundus gehört zum Verantwortungsbereich der Bundeswehr im Norden des Landes. Der örtliche Polizeichef, Brigadegeneral Abdul Razzaq Yaqubi, sagte, 19 Personen seien wegen des Besitzes oder Transports des Alkohols oder der Drogen verhaftet worden. Maulvi Faiz Mohammed, Vorsitzender des Rates der Religionsgelehrten (Ulema), betonte, Alkohol und Drogen seien im Islam verboten. Ungeachtet des religiösen Alkoholbanns gibt es Orte moderner Weltlichkeit in Afghanistan. In Kundus hielt das Hotel „Lapis Lazuli“ deutsches Bier vom Fass bereit. Allerdings wurde der Ausschank inzwischen gestoppt. Das Nachtleben von Kabul galt bislang als vergleichsweise glamourös. Jetzt aber musste auch der In-Klub „L’Atmosphère“ eine zermürbende Razzia über sich ergehen lassen. Der Klub, auf den in ungeteerter Straße keine Leuchtreklame hinweist, wird von schwer bewaffneten Wächtern geschützt.
Körper- und Taschenkontrolle gehören zur normalen Prozedur, bevor man an eine rostrote Metalltür geleitet wird. Deren Schiebefenster öffnet sich kurz, ein letzter prüfender Blick, dann tritt der Gast in einen weiten, von einer hohen Mauer umgebenen Garten samt Swimmingpool. In der Bar sind die Champagner- und Whiskyflaschen dekorativ bis zur Decke gestapelt. Das Restaurant bietet beispielsweise einen Saint Emilion Grand Cru Jahrgang 1999 an, dazu Carpaccio von Jakobsmuscheln und Filet Mignon. Bizarre Orte wie diesen mitten in einer Stadt, in der jeder zu jeder Zeit vom Terror bedroht ist, wird es bald möglicherweise nicht mehr geben. Auch jene Markthändler, die unter der Ladentheke Gin, Wodka, Whiskey oder Bier bereithalten, müssen um ihre Existenz fürchten. Bereits im vergangenen Juni verabschiedete das afghanische Parlament ein strenges Gesetz.
Es droht in Übereinstimmung mit der Schariaa jedermann Geldstrafe, Gefängnis oder 60 Peitschenhieben an, der Alkohol verkauft, kauft oder konsumiert. Ob dies auch die bislang gängigen Sondererlaubnisse des afghanischen Informationsministeriums betrifft, die bestimmten Lokalen den Ausschank von Drinks an Ausländer erlaubt, ist unklar. Im Fernsehen werden Telefonnummern eingeblendet, unter denen man Verkäufer oder Konsumenten von Alkohol anschwärzen kann. Zuvor hatten sich manche Helfer aus dem Westen unsensibel gegenüber islamischen Empfindlichkeiten gezeigt. Im Camp Sullivan in Kabul, in dem 450 Sicherheitskräfte zum Schutz der amerikanischen Botschaft und anderer Einrichtungen untergebracht sind, gab es wilde Saufgelage und Nacktpartys. Afghanische Angestellte wurden offenkundig zur Teilnahme eingeladen. Fotos und Videos davon zirkulierten im Herbst im Internet und belasteten das ohnehin angespannte afghanisch-amerikanische Verhältnis weiter. Und in den USA irritierten vor zwei Jahren Berichte, nach denen pro Jahr über eine Million Liter Alkohol an die Bundeswehr in Afghanistan geliefert wurden – das mache 250 Liter Bier pro Soldat aus.
Die Kabuler Offensive gegen Promille mag mit Karsais Wunsch nach einer nationalen Aussöhnung zusammenhängen. Der Präsident, der selbst nicht trinkt, will den Anführern des radikal-islamischen Aufstands freies Geleit ins Exil anbieten und so Frieden schaffen. Bedingung sei, dass die Anführer ihre Verbindungen zum Terrornetz Al-kaida kappten, berichtet der „Spiegel“. Ein entsprechendes 36-Seiten-Papier habe Karsai vergangene Woche Präsident Obama präsentiert. Kriegsherr Gulbuddin Hekmatyar, der ebenso wie die Taliban gegen die Regierung kämpft, ließ inzwischen dementieren, mit ihm werde über ein Exil für einige Jahre in Saudi-Arabien verhandelt.